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Hafenansicht von Tsingtau
Geschichte
ten Trottoirs und internationalem Verkehr einen verblüffenden Eindruck erweckte. Inmitten eines kleinen Kunstparkes erhebt sich zur linken Seite dieser Straße ‚das Kai- serin Viktoria‘ Denkmal. Namentlich von Interesse waren die hübschen, schlanken braunen Indier in ihrer arbeitsreichen Emsigkeit. In jeder Stellung waren diesel- ben vertreten, als Postbeamte, Bankbe- amte, Kaufleute, Handwerker, Eisenbah- ner u. dgl. mehr, an Verkehrsmitteln fehlte es ebenfalls nicht, elektrische Straßen- bahn, Pferdedroschken, u. Rikscha wett- eiferten durcheinander; wenn die große Hitze u. die braune Umgebung die Ver- änderung nicht verraten hätten, glaubte man sich in eine Großstadt versetzt . . .“ Am Abend desselben Tages noch ver- ließ die silViA Colombo. Am 13. war man wieder auf hoher See, der 15. Februar brachte ein wenig Abkühlung in Form von starkem Regen und kräftigem Nord- wind, denen auf der Höhe der Straße von Malakka allerdings wieder dichter Nebel folgte. Die schlechte Sicht veranlasste den Kapitän, die Geschwindigkeit auf 6 kn zu drosseln. Am 16. Februar früh um 7 Uhr wurde an Steuerbord die damals holländische Insel Sumatra gesichtet, wel- che man in geringem Abstand passierte. Die See war wieder ruhig und das Wet- ter gut, außerdem brachte eine Anzahl größerer Haifische von 5 bis 7 m Länge etwas Abwechslung in den Bordalltag. Dafür machte die Hitze den Mannschaf- ten wieder zu schaffen, zudem musste das letzte der mitgenommenen Zuchttiere über Bord geworfen werden, womit, wie Kraml bemerkt, „die Hoffnungen einer Fortpflanzung deutschen Viehs auf chi- nesischem Boden ein bedauerliches Ende fanden“. Am 18. Februar morgens sich- tete man den Leuchtturm von Singapur. Die silViA hatte mit 1 1⁄2° nördlicher Breite ihre größte Annäherung an den Äquator erreicht, auf die damit verbundenen Stra- pazen hätte allerdings mancher an Bord sicher gerne verzichtet. Das Thermome- ter zeigte nämlich erschreckende 56 Grad, und die Haut der Leute war derart ver- brannt, dass sie Blasen bildete. Glückli-
cherweise hörte die Hitze bald auf, dafür stellten sich neue Widrigkeiten ein.
Mit Ändern des Kurses auf Nord-Nordost und Einlaufen ins Südchinesische Meer traten Sturm und Regen ein, am 20. Fe- bruar war bereits eine derartige Abküh- lung zu verzeichnen, dass man Winterklei- dung anlegen musste. Land war inzwi- schen nicht mehr zu sehen, dafür stieg die Temperatur am 22./23. Februar wieder etwas an, und die zwischenzeitlich wie- der sichtbare Sonne ließ Geist und Kör- per ein wenig aufleben. Am Nachmittag des 24. sichtete man die ersten chinesi- schen Dschunken, am Abend sah man an Backbord das chinesische Festland und an Steuerbord die Insel Victoria mit ihrem Leuchtturm. Wegen einer notwen- dig gewordenen Reparatur an der Stopf- buchse der Schraubenwelle musste aller- dings eine mehrstündige Zwangspause auf offener See eingelegt werden, bevor man am Morgen des 25. Februar in den internationalen Kriegs- und Freihafen Hongkong einlaufen konnte. Kraml und seine Kameraden erhielten abermals Landurlaub und wurden mit einer Dampf- pinasse der Hamburg-Amerika-Linie zur Landungsbrücke gebracht. Welchen Ein- druck die Metropole auf ihn machte, hat er in seinen Aufzeichnungen festgehalten: „Längs der Quai-Anlagen ziehen sich die Geschäftshäuser weltberühmter Unter- nehmungen hin. Im Innern der Stadt mit modernen Straßen u. Parkanlagen zeich- nen sich namentlich die großen chinesi-
Die silvia diente als Truppentransporter
schen Handelshäuser durch ihre Anpas- sung an den modernen europäischen Hausstil aus, in deren Auslagen u. Schau- fenstern die chinesischen u. japanischen Spezialitäten besondere Aufmerksam- keit auf sich lenken. An Verkehrsmittel ist ebenfalls kein Mangel, so auch Sänften, zu welcher 4 Chinesen notwendig sind, sind sehr verbreitet u. namentlich bei der europäischen Damenwelt sehr beliebt, da Hong-Kongs Straßen sehr steil ver- anlagt u. offene Verkehrswege pufferar- tig gleich einer Treppe am Berge hoch gebaut sind . . .“
Insbesondere beeindruckte ihn das Chi- nesenviertel mit seinen bunten Gebäu- den, Lampions und Fahnen und nicht zuletzt die Chinesinnen mit ihren rosa geschminkten Gesichtern, eigentümli- chen Frisuren und ihrer mit Spitzen ver- sehenen schwarzseidenen Kleidung. Aber viel Zeit für solche Betrachtungen blieb nicht. Die silViA hatte inzwischen Lebensmittel, Kohlen und Wasser an Bord genommen und war am 26. Februar klar zur Weiterreise. Mit Hilfe eines Lotsen fuhr das Schiff gegen 2 Uhr dem Hafen- ausgang zu, um den letzten Punkt seiner Ausreise, die Hauptstadt des Pachtge- biets Kiautschou, Tsingtau, anzusteuern. Damit beginnt der letzte Abschnitt von Kramls Reisebeschreibung. Demnach erreichte man am 27. Februar „ein kleines Meer von Inseln“, wodurch die Formosa- straße führt, und begegnete einem japani- schen Kriegsschiff und zahlreichen Dschun- ken. Am 28. kam wiederholt starker Nebel auf, was den Kapitän veranlasste, die Reise mit halber Fahrt fortzusetzen und alle 30 Sekunden von der Dampfpfeife Gebrauch zu machen. Derweil hatte man die Formosastraße passiert und war in das Gelbe Meer eingefahren, wo die silViA zeitweilig von einem englischen Kriegs- schiff begleitet wurde. Die letzten Tage
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