Page 22 - OstseeZeitung (+19.01.2017)
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II OSTSEE-ZEITUNG KULTUR Donnerstag, 19. Januar 2017
„Maschine“
sagt sieben
Konzerte ab
Leipzig. Vor
dem Start der
„Neubeginner-
tour“ von
Ex-Puhdy-Sän-
ger Dieter „Ma-
schine“Birr(Fo-
to) sind sieben
der 18 Konzerte
abgesagtundei-
nes verschoben worden. „Die
von uns geplante Tour mit Gäs-
ten wie Uwe Hassbecker, Julia
Neigel, Janos ,Mecky’ Kobor
von Omega oder Ela Steinmetz
von Elaiza sowie einer fantasti-
schen Liveband ist wirtschaft-
lich nicht realisierbar“, teilte
Birr (72) mit. Seine erste Solo-
tournachderAuflösungderPuh-
dys soll morgen in Leipzig star-
ten. Abgesagt wurden die Kon-
zerte in Erfurt, Frankfurt/M.,
Hannover, Potsdam, Frankfurt/
Oder, Zwickau und Görlitz.
IN KÜRZE
Römischer Pferdekopf
beschäftigt Gericht
Limburg. Im Rechtsstreit um ei-
nen römischen Pferdekopf wird
das Landgericht Limburg im Feb- Dieses Bild aus dem Jahr 1991 zeigt einen Biosphären-Komplex in der Wüste Arizonas. Acht Leute lebten dort zwei Jahre lang zusammen in einem völlig abgeschirmten Bereich. FOTO: JOHN MILLER/AP
ruar eine Entscheidung treffen.
Bisher gebe es keinen Vergleich
zwischen dem Land und dem Klä-
ger aus Hessen, berichtete ein Ge- Im Dschungelcamp der Forscher
richtssprecher. Geklagt hatte ein
Mann aus Lahnau, auf dessen
Grundstück 2009 die wertvolle
Bronzeskulptur entdeckt wurde.
Bei dem Streit geht es um die Hö- T.C. Boyle schließt in „Die Terranauten“ acht Menschen unter einer Glaskuppel ein – das geht nicht gut
he der Entschädigung, die Hessen
dem Landwirt zahlen muss.
Von Henry Lohmar cher Wohnraum nebeneinander pel und sind wild entschlossen, das managementssowieMedienbeauf- ne Teamgeist bröckelt, sobald die
„Bar jeder Vernunft“ existieren. Acht Wissenschaftler – Leitmotiv „Nichts rein, nichts trager, und die Nutztierwärterin Luft dünner und das Essen knap-
feiert 25-Jähriges München. Der Hund – das Ei – die vier Männer, vier Frauen – lebten raus“zu befolgen– komme,was da DawnChapman.Beideerlebenbe- per wird. Und es menschelt, auch
Zeitung– die Ratte. Auf Twitter do- zwei Jahre darin. wolle. Begleitet werden sie von ei- sonders gegen Ende zermürbende im Blickfeld der zahlreichen Über-
Berlin. Wo Kleinkunst groß läuft: kumentiert der amerikanische Was Boyle daran interessiert, ist nem riesigen Medienrummel, der Etappen des Experiments hautnah wachungskameras. Die Affären,
Die „Bar jeder Vernunft“ – ein Schriftsteller T.C. Boyle regelmä- weniger die wissenschaftliche Er- das Kommerzielle und auch Sek- mit und beschreiben die Gruppen- Szenen und Eifersüchteleien unter
Spiegelzelt auf einem Parkdeck ßig sein Morgenritual. Die Bilder kenntnis als der menschliche Fak- tenhafte der Mission unterstreicht. dynamik von innen. Die Außen- den Terranauten haben etwas vom
am Haus der Berliner Festspiele – zeigen eigentlich jeden Tag das tor. Schon oft hat der Popstar unter Der milliardenschwere Mäzen, der perspektive nimmt die ehrgeizige „Dschungelcamp“. Und dann ge-
bereitet als Veranstaltungsstätte Gleiche:einegewundeneStraßeir- den US-Bestsellerautoren in sei- das Ganze leitet, wird von den Linda Ryu ein, die zwar Teil der schiehtdasUngeplante:EineTerra-
seit einem Vierteljahrhundert un- gendwo in der Nähe des kaliforni- nenRomanendiedunklenParallel- Crew-Mitgliedern passenderwei- Crew ist, es aber nicht zur Terra- nautin–esist Dawn–wirdschwan-
terhaltsame Abende. Das bei Berli- schen Küstenstädtchens Monte- welten der Zivilisation erkundet – se „Gottvater“ genannt. nautin geschafft hat. Obwohl eine ger. Dass sie das Kind unbedingt in
nern und Touristen beliebte Thea- cito, auf der Boyle offenbar seinen zuletzt ging es in „Hart auf Hart“ Der Leser lernt das Leben in und enge Freundin Dawn Chapmans, „Ecosphere 2“ bekommen will –
ter mit Tischen, Logen und Restau- Hundausführt,einFrühstücksei,ei- um das Schicksal dreier Abweich- um „Ecosphere 2“ – so heißt das entwickelt sie im Laufe der Story dass sie es überhaupt bekommen
rantbetrieb feierte – obwohl 1992 ne aktuelle Schlagzeile aus der ler, die sich aus Prinzip und wenn Projekt im Roman – aus drei Per- äußerst boshafte Züge. will –, löst innerhalb der Gruppe
eigentlich erst im Juni eröffnet – „Los Angeles Times“– und eine to- es sein muss mit Gewalt jedem spektiven kennen. Zunächst sind Neid und Missgunst aber gibt es schwere Konflikte aus. Als die
seinen 25. Geburtstag. Dabei trat te Ratte, deren Verwesungszu- staatlichen Zugriff verweigern. da Ramsay Roothorp, Leiter des auch im Innern der Kuppel. Der Nachricht schließlich nach außen
unter anderem die Diseuse Geor- stand der Autor von Tag zu Tag Und nun: Menschen in der Bio- Wasser- und Abwasser- von „Mission Control“ beschwore- dringt, beginnt ein Kampf um die
gette Dee auf. Moderator der Jubi- akribisch dokumentiert. Seht nur, sphäre. „Vier Männer und vier Deutungshoheit, dessen Ausgang
läumsshow war Götz Alsmann. sagen die Kadaver-Fotos, so sieht Frauen, eingeschlossen für zwei für die Zukunft des Projekts ent-
esaus,wennmandieKräftederNa- Jahre – ich hatte keine Ahnung, Autor und Buch scheidend ist.
Rattle will mehr tur nur walten lässt. wie unglaublich sexy das ist“, sagt T.C. Boyle machtaus einem wis-
britische Musik Die Schaffung einer neuen Na- der 68-Jährige in einem Werbe-Vi- Tom Coraghessan Boyle wuchs in schwierigen Verhältnis- senschaftlichen Experiment, aus
turistThemavonBoylesmittlerwei- deo für den Roman. sen auf. Nach ausschweifenden Jugendjahren entdeckte er sei- dem Versuch, Leben unter einer
London. Mit einer zehntägigen le 16. Roman „Die Terranauten“. Die Handlung der „Terranau- ne Liebe für die Literatur. Neben zahlreichen Kurzgeschichten Glaskugelzusimulieren,eineriesi-
Konzertreihe will Simon Rattle im Es geht darin um das Überleben in ten“ beginnt nach dem Scheitern veröffentlichte er 16 Romane. Zu seinen bekanntesten Wer- ge PR-Veranstaltung für einen Su-
Herbst seinen Einstand in London einem künstlichen Ökosystem– als der ersten Mission. Acht sorgfältig ken gehören „Wassermusik“ perreichen.DieBe-
feiern. Wie der Noch-Chef der Ber- Vorbereitung auf eine Zukunft, in ausgewählteWissenschaftlerbege- (1982), „World’s End“ (1987) teiligten lassen
liner Philharmoniker mitteilte, will der die Menschen auf den Mars bensichgemeinsamunter dieKup- und „Dr. Sex“ (2005). Poli- sich nur allzu ger-
er sich in seiner ersten Saison in auswandern. Reale Vorlage ist tisch steht Boyle eher ne„fürdieguteSa-
London auf die Werke von moder- „Biosphere 2“, ein Projekt, das der Der US-amerikanische links. Donald Trump be- che“ ausbeuten
nen Komponisten konzentrieren. Milliardär Edward Bass in den Schriftsteller und Best- zeichnete er als „gefährli- und gehen freiwil-
Die britische Musik sei eine „Gold- 1990er Jahren finanziert hat. Für sellerautor T.C. Boyle chen Clown“. Unter ihm wer- ligbisanihreGren-
grube“, die er weiter erforschen geschätzte 200 Millionen US-Dol- (68) während des de Amerika zu einer „Dikta- zen.
wolle, sagte Rattle zu seiner Rolle lar wurde in der Wüste Arizonas Literaturfestivals tur der Reichen“. Aber die Natur,
als Chef des London Symphony ein 204 000 Kubikmeter umschlie- „lit.Cologne“ T.C. Boyle: „Die Terra- dasmerkensiefrü-
Orchestra (LSO). Rattle, der heute ßender Gebäudekomplex errich- 2013 in Köln nauten“, Carl Hanser her oder später al-
62 Jahre alt wird, verabschiedet tet, in dem Savanne, Regenwald, FOTO: HENNING Verlag, München 2017, le, kann keiner
sich 2018 endgültig aus Berlin. Wüste, Ackerfläche und menschli- KAISER/DPA 608 Seiten, 26 Euro überlisten.
Gedankendichte und Kunsthalle Hamburg
pralle Klanglichkeit zeigt venezianische Malerei
Greifswald. „Dichtigkeit der Erfin- MUSIKKRITIK versive“ Stellungnahme in Zeiten Hamburg. Der neue Direktor der große Stärke des Hauses. Vogtherr reicher Modernisierung im Früh-
dung“, „wunderbar verschlung- innerer Emigration, Klage und An- Hamburger Kunsthalle, Christoph war seit 2011 Direktor der Wallace jahr 2016 hatten im vergangenen
nes Wachstum der Motive“ und klage,mitZitatenderHussiten und MartinVogtherr, willmit demKon- Collection in London, bevor er im Jahr mehr als 560 000 Menschen
„packenderZug des Ganzen“ –Jo- Ekkehard Ochs der Russischen Revolution von zept„Open Access“neueBevölke- Herbst in der Hansestadt Hubertus das Museum besucht. „Das ist der
seph Joachims Lob der 4. Sinfonie über das 1905bekenntnishaftundalsantifa- rungsschichten ins Museum lo- Gaßnerablöste.NachderNeueröff- höchste Wert in der fast 150-jähri-
seines Freundes Johannes Brahms 3. Philharmonische schistisch eindeutig verortet. cken. Dafür werden 15 Menschen, nung der Kunsthalle nach umfang- gen Geschichtedes Hauses“, sagte
hätte auch als Motto über dem Konzert in Greifswald Mika Seifert, Konzertmeister der die aus unterschiedlichen Ländern GeschäftsführerStefan Brandt.Da-
3. Philharmonischen Konzert des Philharmoniker,sorgtemitdemOr- und zu unterschiedlichen Zeiten zu zählten auch 205 000 Besucher,
Theaters Vorpommern in Greifs- chester für eine ausdrucksstarke nach Hamburg kamen, ihren Blick die den kostenlosen Eintritt im Mai
wald stehen können. Mit Leopold eralsDokumentvergangener,heu- Wiedergabe: technisch souverän, auf die Sammlung präsentieren. in Anspruch genommen hatten.
Stokowskis Orchesterfassung von te kritisch betrachteter Bach-Bear- tonintensiv, mit artikulativ präg- „Es ist ein Versuch, nach neuen Im Februar würdigt die Ausstel-
Bachs Orgel-Passacaglia und Fuge beitungenproblematisch;ungeach- nanter, gedanken- und empfin- Möglichkeiten zu suchen, wie wir lung „Die Poesie der veneziani-
c-Moll (BWV 582), dem „Concerto tet allen dankenswerten Engage- dungsreicher „Sprache“ und allem denöffentlichenAuftragdesMuse- schen Malerei“ das Werk des Ma-
funebre“ von Karl Amadeus Hart- ments der Philharmoniker unter Anspruch eines „durchlebten ums in neuenFormen erfüllen kön- lers Paris Bordone (1500-1571) im
mannundderBrahms-Sinfoniewa- Generalmusikdirektor Golo Berg. Kunstwerkes“ (Hartmann) genü- nen“, sagte Vogtherr gestern. Schatten seines Lehrers Tizian und
ren alle Parameter einer strukturell Ihm verdankte man ein Doku- gend. Durchlebt, lebendig durch- Er will die Sammlung des Muse- stellt es im Kontext herausragen-
dichten,klangintensivenundnahe- ment ganz anderer Art: die expres- pulst, auch im Detail klanglich ver- umsstärkerindenVordergrundrü- der venezianischer Künstler vor. In
zu obsessiv ausdrucksstarken Mu- sive Präsentation von Hartmanns dichtet und mit wahrlich kraft- cken. „Die Hamburger Kunsthalle der Galerie der Gegenwart sind im
sik gegeben. schmerzliche Verinnerlichung, be- voll-forschem „Zug zum Ganzen“ ist eines der ganz wenigen Museen FebruarArbeitenvon23internatio-
Für Ambivalenzverhalten dürfte drohlicherregteGestikundchoral- – siehe oben – beschloss man dann in Deutschland, wo sich das Mittel- nalen Künstlern zu sehen, die sich
der Bach gesorgt haben. Riesig be- hafteKlageverbindendenundzeit- mit Brahms einen Abend von epi- alter bis zur zeitgenössischen Christoph Martin Vogtherr ist neuer dem Thema „Warten. Zwischen
setzt, orgelähnlich und üppig geschichtlich geprägtem Violin- scher Würde, gedanklicher Strin- Kunst unter einem Dach befindet“, Direktor der Hamburger Kunsthalle. Macht und Möglichkeit“ widmen.
klangsinnlich „registriert“, bleibt konzertvon1939(1959):eine „sub- genz und praller Klanglichkeit. sagte der 52-Jährige. Das sei eine FOTO: CHRISTIAN CHARISIUS/DPA Carola Große-Wilde