Page 46 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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      Missverständliclie Auslegung meiner Vorschläge kann allerdings zu
      einem Cirkel führen; der Vorwurf trifft aber dann nicht die Sache,
      sondern eine irrthümliche Auffassung derselben.  Allein, da von zwei
      anderen Autoren, wie wir sogleich sehen werden, der nämliche Ein-
      wand erhoben wird, so schKeße   ich, dass mir der Ausdruck dessen,
      was ich mit der Definition  des Inertialsystemes beabsichtigte,  s. Z.
      noch nicht in ganz unzweideutiger "Weise gelungen  ist.  Auf jeden
      Fall erwächst mir die Pflicht, auf die erwähnten Kriticismen ausführ-
      lich einzugehen.
         Frege führt seinen Einwand mit folgenden "Worten näher aus:
      »Die Frage, ob   ein materieller Punkt  ,sich  selbst  überlassen*  sei,
      übersteigt die Erfahrung ebenso, wie  die, ob er absolut ruhe.  Bei
      Newton war die Frage: wie unterscheiden wir wahre Bewegung von
      der scheinbaren?  Hier  ist die Frage: wie unterscheiden wir beein-
      flusste Bewegung von der eines  sich selbst überlassenen materiellen
      Punktes?    Bei Newton     bedurften  wir  zur  Beantwortung  der
      Kenntniss des absoluten Baumes, die wir nicht haben; hier bedürfen
      wir  der Kenntniss  eines Inertialsystems ,  die uns  gleichfalls  fehlt.
      Denn, um zu wissen, ob ein gegebenes Coordinatensystem ein Inertial-
      system  sei, müssten wir unsere Frage schon beantwortet haben« ^^j.
      G-anz  ähnlich  äußert  sich  P. Johannesson  (1896):  »Die  dritte
      Eigenschaft eines in seiner Bewegung beharrenden Massentheilchens,
      seine Unabhängigkeit     von   anderen Massen,      ist  von  den
      erwähnten Forschern nicht untersucht worden.  Sie benutzen dieselbe
      bei ihren Herleitungen  als etwas Selbstverständliches.  In uns hat
      gerade sie die größeren Zweifel erregt« '5)      »Man kann eben
      nicht umhin,  die Kraft durch das Fehlen der Beharrung, und die
      Beharrung  durch  das  Fehlen  von Kräften   zu  erklären«
      »Deshalb treten wir nicht den Formen bei, in denen Neumann,
      Streintz, Lange und "Weber        das Beharrungsgesetz  schließlich
      aussprechen  , da sie ein Merkmal für das Fehlen der Kraftbeziehung
      nicht angeben und  nicht angeben können« '^}          »"Wie wenig
      aber« — mit den verschiedenen vorgeschlagenen Coordinatensystemen
      —   »den  Schwierigkeiten im Beharrungssatze  abgeholfen  ist,  lehrt

      diese kurze Ueberlegung.  In allen mitgetheilten Vorschlägen müssen
      die beharrenden Körper die Eigenschaft besitzen, dass sie ,nicht unter
      dem Einfluss fremder Massen stehen' oder ,sich selbst überlassen sind'
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