Page 114 - Materie: Ein anderer Name für Illusion
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EIN PHYSIKER, DER DIE ZEITLOSIGKEIT


                                                    UND EWIGKEIT ERKLÄRT



                     In einem Interview mit der Zeitschrift Discover weist der berühmte Physiker Julian Barbour, der Autor des
                     Buches The End of Time [Das Ende der Zeit] darauf hin, dass die Themen, die wir in diesem Kapitel erwähnt
                     haben, wissenschaftliche Tatsachen sind. Einige der Themen, die Barbour in dem Interview, das unter dem
                     Titel "From Here to Eternity" ("Von Hier bis zur Ewigkeit") veröffentlicht wurde, erklärt hat, und einige der In-
                     terpretationen von Tim Folger, dem Interviewer von Discover, sind folgende:

                     Seiner Ansicht nach wird dieser Moment und das was er umfasst – Barbour selbst, sein amerikanischer Besucher, die Erde
                     und alles bis hin zu den entferntesten Galaxien – sich nie ändern. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. In der
                     Tat sind Zeit und Bewegung nichts anderes als Illusionen. In Barbours Universum existiert jeder Moment des Lebens
                     jedes Individuums – seine Geburt, sein Tod und alles dazwischen - für immer. Barbour sagt folgendes: "Jeder Moment,
                     den wir erleben, ist im wesentlichen ewig."

                     Jede mögliche Konfiguration des Universums, die Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, existiert getrennt voneinander
                     und ewig. Wir leben nicht in einem einzelnen Universum, das in der Zeit herumreist. Wir oder unterschiedliche Versio-
                     nen von uns selbst befinden uns zu irgendwelcher Zeit innerhalb des Universums, das alles in sich fasst, auf vielen sta-
                     tischen und ewigen Tafeln gleichzeitig. Barbour nennt alle diese möglichen unbeweglichen Lebenskonfigurationen das
                     "Jetzt." Jedes "Jetzt" ist ein komplettes, selbständiges, zeitloses, unveränderliches Universum. Wir nehmen das "Jetzt"
                     irrtümlich als flüchtig wahr, während alle Momente für immer fortbestehen. Da der Begriff "Universum" zu klein
                     scheint, um alle möglichen "Jetzt" zu umfassen, prägte Barbour ein neues Wort dafür: Platonia. Dieser Name ehrt einen
                     Philosophen der alten Griechen, der argumentierte, dass die Wirklichkeit aus den ewigen und unveränderlichen Gestalten
                     besteht, obwohl die physische Welt, die wir durch unsere Sinne wahrnehmen, so scheint, als ob sie in konstant dahin fließt.

                     Er (Barbour) vergleicht seine Ansicht der Wirklichkeit mit einem Filmschnipsel Jeder Schnipsel erfasst die Grashalme, die
                     Wolken im blauen Himmel, Julian Barbour, einen verblüfften Verfasser der Zeitschrift Discover, und entfernte Galaxien.
                     Aber nichts bewegt oder ändert sich in irgendeinem der Filmschnipsel. Vergangenheit und Zukunft verschwinden nicht,
                     nachdem sie passiert sind.
                     "Dies stimmt damit überein, sich an die wichtigen Momente Ihres Lebens zu erinnern" sagt Barbour. "Sie erinnern bes-
                     timmte Szenen sehr klar wie einen Schnappschuss. Ich erinnere mich sehr tragisch daran, ich musste einmal zu einem
                     Mann gehen, der sich erschossen hatte. Ich habe noch heute keine Mühe, mich an den Mann zu erinnern, der blutbefleckt
                     mit der Waffe in der Hand unten an der Treppe lag, als ich die Tür öffnete. Es ist wie eine Fotographie in mein Gedächt-
                     nis eingeprägt worden. Ich habe noch viele Erinnerungen, an die ich mich gleicherweise erinnere. Menschen haben starke
                     visuelle Gedächtnisse. Wenn es kein Schnappschuss ist, könnten es einige Szenen eines Films sein, an die Sie sich erin-
                     nern. Vielleicht denken Sie an Ihre wichtigsten Erinnerungen. Aber Sie können an sie nicht in einer Sekunde denken. Sie
                     sehen diese als Schnappschüsse im Auge Ihres Verstandes, nicht wahr? Diese Erinnerungen verblassen nicht. Sie
                     scheinen keine Dauer zu haben. Sie sind dort wie die Seiten eines Buches. Sie können nicht fragen, wie viele Sekunden eine
                     Seite dauert. Sie dauert keine Millisekunde und keine Sekunde; sie ist nur dort."

                     Barbour erwartet ruhig die unvermeidlichen Einwände.

                     Bewegen wir uns dann nicht irgendwie von einem "Filmstreifen" in den anderen?

                     Nein. Es gibt keine Bewegung von einer statischen Anordnung des Universums in die andere. Einige Konfigurationen des
                     Universums enthalten einfach die Erinnerungen, die das Jetzt bilden und als die Vergangenheit beschrieben werden, und
                     Fragmente von Bewusstsein. Die Illusion der Bewegung tritt auf, weil die vielen geringfügig unterschiedlichen Versionen
                     von uns - keine von denen bewegt sich - sich gleichzeitig zusammen mit ein bisschen unterschiedlich angeordneter Ma-
                     terie in diesen Universen befinden. Jede unserer Versionen sieht einen anderen Filmschnipsel - ein einzigartiges, bewe-
                     gungsloses, ewiges "Jetzt". "Meiner Meinung nach sind wir in zwei beliebigen, verschiedenen Momenten nie dieselben"
                     sagt Barbour.
                     In der Pfarrkirche gleich neben Barbours Haus gibt es einige der seltensten Wandgemälde in England. Ein Gemälde, das
                     um 1340 fertig gestellt wurde, stellt den Mord an Thomas à Becket, einem Erzbischof im 12. Jahrhundert dar, dessen
                     Glaube zu dem von König Henry II im Widerspruch stand. Das Wandgemälde zeigt den Moment, als das Schwert eines
                     Ritters Beckets Schädel spaltete. Blut spritzt aus der klaffenden Wunde. Wenn Barbours Theorie korrekt ist, dann existiert
                     der Moment des Martyriums von Becket als ein ewiges "Jetzt" in irgendeiner Konfiguration des Universums wie unser
                     eigener Tod auch. Aber in Barbours Kosmos ist unsere Todesstunde nicht ein Ende; sondern einer der zahllosen Be-
                     standteile einer unbegreiflichen riesigen, gefrorenen Struktur. Alle Erfahrungen, die wir erlebt haben und erleben werden,






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