Page 577 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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werde kein betreffender Fall sein, daß nicht irgend ein Richter entweder
                aus Widerspruchsgeist, oder weil er sich schämt, schon Gesagtes zu
                wiederholen, oder um sich das Wohlwollen des Königs zu gewinnen,

                irgend eine schmale Spalte entdeckt, in die der Samen der Verläumdung
                gesäet werden kann. Wenn dann die Richter verschiedener Meinung sind,
                und eine an sich sonnenklare Sache bestritten und die Wahrheit in
                Zweifel gezogen wird, so werde dem Könige eine bequeme Handhabe
                geboten, das Recht zu seinen Gunsten auszulegen; die Uebrigen werden,
                entweder weil sie sich schämen, oder in Furcht beistimmen, wenn das
                Urtheil vom Gerichte nur kühn gesprochen wird. Dem zu Gunsten des

                Fürsten Urtheile Fällenden kann es auch an plausiblen Vorwänden nicht
                fehlen. Denn es genügt ihm, wenn die Billigkeit für ihn spricht, oder der
                Wortlaut des Gesetzes, oder eine gezwungene Auslegung des
                geschriebenen Rechtes, oder endlich, was bei gewissenhaften Richtern
                über alle Gesetze den Ausschlag gibt, das unzweifelhafte Vorrecht des
                Fürsten.

                     Alle stimmen in dem Ausspruche des Crassus überein, daß kein
                Fürst zu viel Geld besitze, der ein Heer zu ernähren habe; sie sind
                überdies auch darin alle einig, daß ein König, wenn er auch noch so sehr
                wollte, nichts Ungerechtes begehen könne, denn Alles, was die
                Menschen besitzen, gehöre ihm, wie die Menschen selbst auch, und dem
                Einzelnen sei nur das zu eigen, was ihm der König nicht genommen
                habe, und daß dieser dem Individuum verbleibende Besitz so gering als

                möglich sei, liege ja sehr im Interesse des Fürsten, denn dessen
                Sicherheit bestehe darin, daß das Volk nicht durch Reichthum und
                Freiheit übermüthig werde, da man unter solchen Umständen nicht eben
                gutmüthig harte und ungerechte Befehle ertrage, während Armuth und
                Noth die Geister abstumpfe, geduldig mache und den Bedrängten den
                kühnen Muth sich zu empören benehme.

                     Wenn ich mich nun da wieder erheben und behaupten wollte, alle
                diese Rathschläge seien für den König wenig ehrbar, ja verderblich,
                dessen Ehre, aber auch dessen Sicherheit mehr in den Mitteln und
                Reichthümern des Volkes bestehe, als in seinen eigenen, wenn ich
                bewiese, das Volk wähle sich einen König in seinem eigenen Interesse
                und nicht um des Königs willen, damit sie Alle nämlich durch dieses
                einen Mannes Bemühung und Obsorge ein behagliches, vor Unbilden

                geschütztes Leben führen, und daß es daher mehr Sache des Fürsten sei,
                für das Wohl seines Volkes zu sorgen, als für sein eigenes, gerade so wie
                es Pflicht des Hirten sei, seine Schafe gut zu nähren und nicht sich selbst,
                wofern er ein braver Hirt ist!





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