Page 584 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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auf welche Weise soll die erforderliche Menge Güter geschafft werden,
wenn sich Jeder der Arbeit entzieht? Denn wer nicht einen persönlichen
Grund zum Erwerb hat, der ihn anspornt, der wird, indem er sich auf
fremden Fleiß verläßt, träge. Wenn sie aber auch durch die eigene
Armuth angestachelt würden, müßten nicht beständig Mord und Aufruhr
drohen, wenn Niemand durch ein Gesetz in Stand gesetzt wäre, das, was
er einmal erworben hat, sich erhalten zu können?
Woher unter Menschen, bei denen die Autorität der Obrigkeit und die
Ehrfurcht vor derselben aufgehoben ist, und unter denen keinerlei
Unterschied besteht, Autorität und Ehrfurcht vor irgend etwas überhaupt
herkommen soll, vermag ich nicht einmal zu ahnen.«
»Es wundert mich mit nichten«, versetzte er darauf, »weil du dir kein
Bild, oder nur ein falsches davon zu machen im Stande bist. Wenn du
aber mit mir in Utopien gewesen wärest und die dortigen Sitten und
Einrichtungen mit eigenen Augen gesehen hättest, wie ich, der über fünf
Jahre dort zugebracht hat, und gar nicht von dort hätte scheiden wollen,
wenn es nicht deswegen geschehen wäre, um diesen neuen Erdkreis hier
kund zu thun – so würdest du unumwunden eingestehen ein besser
organisirtes Volk als das dortige sei dir nirgends begegnet.«
»Nun wahrhaftig«, sagte da Petrus Aegidius, »es soll dir schwer
fallen, mich zu überreden, daß man in jener neuen Welt ein besser
organisirtes Volk finden könne, als in dieser unserer alten
wohlbekannten; unsere Staaten sind, meine ich, die älteren und an
ebenbürtigen Geistern fehlt es uns nicht; auch sind hier von altersher
eine große Zahl Kulturgüter im Gebrauche, ganz zu geschweigen, daß
bei uns allerlei durch Zufall entdeckt worden, was kein Genie hätte
erfinden können.«
»Was das höhere Alter der Staaten anbelangt«, sagte Jener darauf,
»so würdest du richtiger zu urtheilen vermögen, wenn du die
Geschichten jenes Welttheils durchgelesen hättest, wonach es, wenn man
ihnen Glauben schenken darf, dort früher Städte gegeben hat, als bei uns
Menschen; und was Verstand oder Zufall bis jetzt erfunden hat, das mag
es dort sowohl wie hier gegeben haben.
Meine Meinung ist demnach die, daß wir sie an Geist übertreffen, an
Lern- und Arbeitsfleiß aber sie uns bei weitem überlegen sind. Denn laut
ihren Jahrbüchern war vor unserer Landung dort von uns (die sie
›Ultraequinoctiale‹ nennen) nicht weiter die Rede, als daß vor
zwölfhundert Jahren ein Schiff, das vom Sturme dahin verschlagen
worden, einmal an jenen Küsten Schiffbruch gelitten hat. Da sind Römer
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