Page 67 - SitzPlatzFuss GESUNDHEIT
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Es klingelt, der Hund bellt, ein kleines Päckchen mit dem bestellten Arzneimittel wird vom Eilboten überreicht, und jetzt heißt es: Schnell auspacken, denn das Arzneimittel lebt! Der kleine Pappkarton enthält eine Styroporverpackung. Diese ist gefüllt mit bunten Schaumstofffetzen und einem kleinen feuchten Stoffsäckchen, das fest mit einem dünnen Kabelbin- der verschlossen ist. Vorsichtig wird der Kabelbinder durcht- rennt und der Inhalt in ein dafür vorbereitetes Glas mit Wasser und Steinen befördert.
Der Inhalt: Blutegel – Hirudo verbana. Es sind schlanke, grünlich schimmernde, rötlich gemusterte Würmer unter- schiedlicher Größe mit einem schicken hellgrünen Rallyestrei- fen an jeder Seite und einer hellgrünen Bauchseite.
Was man zudem sofort sieht: Sie können sehr gut schwim- men. Ästhetisch schlängeln sie sich durchs Wasser. Wenn die erste Aufregung vorbei ist, werden sie sich entweder außerhalb oder innerhalb des Wassers mit ihren beiden Saugnäpfen, die sich an den Enden des Körpers befinden, am Glas festsaugen. Zwischendurch werden sie eine Runde schwimmen oder sich mit einer schaukelnden Bewegung an einem Stein reiben, um sich zu häuten. Das alles taten sie schon vor 450 Millionen Jahren und damit sind Blutegel erdgeschichtlich gesehen sogar älter als die Dinosaurier.
BLUTEGEL ALS THERAPIE
Und wie sind wir Menschen auf die Idee gekommen, uns oder unsere Tiere absichtlich von Würmern beißen zu lassen?
Es ist anzunehmen, dass wir diese Therapieform vor ca. 3000 Jahren von den Tieren übernommen haben, denn es ist bekannt, dass Säugetiere wie Wasserbüffel, Rinder und Pferde bei Problemen im Bewegungsapparat instinktiv gezielt Gewässer mit Blutegeln aufsuchen.
Überlieferungen aus Indien und China, von den Römern und von griechischen Gelehrten dokumentieren den vielfältigen und erfolgreichen Einsatz von Blutegeln. Der Stellenwert dieser Therapie wird klar, wenn man sich zum Beispiel die indische Gottheit Dhanvantari (Vishnu) ansieht. Sie trägt einen Blutegel in einer der vier Hände.
Wenngleich Blutegel zunächst nur von medizinisch mehr oder weniger Geschulten angewandt wurden, so fanden sie auch ihren Weg in die Volksmedizin und wurden von jedermann für die Heilung jeglicher Leiden eingesetzt – vielfach erfolgreich. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Therapie mit Blutegeln zunehmend populärer wurde und schließlich im sogenannten „Vampyrismus“ des 19. Jahrhunderts gipfelte, der fast zum Aussterben der Blutegel geführt hätte.
Der Vampyrismus zeichnet sich durch einen exzessiven Einsatz von bis zu 100 Blutegeln pro Patient aus, und so mancher hat diese Therapie mit dem Tod bezahlt. Zum einen nimmt jeder Egel pro Saugvorgang zwischen 20–50 ml Blut auf, und zum anderen hat die Saliva (Speichel) blutverdünnende Eigenschaf- ten, sodass das zusätzliche Nachbluten zu einem übermäßigen Blutverlust führen kann. Deshalb ist ein Einsatz von Blutegeln an Tieren, die unter 5 kg wiegen, gut abzuwägen.
Blutegel sind sehr sensible Tiere, die keinesfalls immer zubeißen, sobald man ihnen einen Patienten vorsetzt. Ist der Therapeut aufgeregt, die Umgebung zu warm oder zu kalt, hat der Patient vorab bestimmte Medikamente erhalten, wurde die Körperoberfläche mit einer Salbe oder Ähnlichem behandelt oder droht ein Gewitter, so kann der Blutegel den heilenden Biss schon mal verweigern. Geübte Therapeuten können den Egel meist doch noch mit der ein oder anderen Maßnahme zum Beißen überreden.
Die geeignete Bissstelle findet der Blutegel durch spezielle Thermorezeptoren an der Oberlippe. Er bevorzugt stärker durchblutete Regionen, da er hier einen „Schnellimbiss“ vermutet. Somit wird er auch gern an einer entzündeten Lokalität andocken. Den eigentlichen Biss wird der Patient nur als kleinen Stich oder Brennen wahrnehmen.
Ansonsten mögen es Blutegel ruhig und dunkel. Das Wasser muss kalkarm und wohltemperiert bei 4–18 Grad Celsius sein. Steine zum Häuten und eventuell eine entsprechende Wasserpflanze runden die Wellnessoase für den Blutegel ab.
PRAKTISCHER EINSATZ
... und was ist jetzt mit unseren Blutegeln? Nachdem sie sich ein bis zwei Tage von ihrem Reisestress erholt haben, sind sie – frisch geduscht – bereit für ihren Einsatz.
Der Hundepatient liegt geduldig auf einer hygienischen Unterlage und kennt das Prozedere. Hochgradige Hüftgelenks-
Häufig ist vom Hirudo medicinalis, dem mitteleuropäi- schen Blutegel, die Rede. Dieser unterscheidet sich v. a. in der Färbung und im Stoffwechsel vom Hirudo verbana und ist im Handel nicht erhältlich. Sämtliche Studien wurden am Hirudo verbana durchgeführt.
Hirudo medicinalis und Hirudo verbana stehen unter Artenschutz. Der Hirudo orientalis wird wahrscheinlich demnächst vom Washingtoner Artenschutzabkommen unter Artenschutz gestellt werden.
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