Page 186 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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^- Mcumann.
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        Ganzen, dem abstracten Inhalt des Wortes »Vogel«. Frey er nimmt
        bekanntlich keinen Anstand, auch  alle  diese  logischen Leistungen
        dem noch nicht sprechenden Kinde zuzuschreiben.  Allein von alle
       dem kann keine ßede       sein!  Die beiden  empirischen Anhalts-
       punkte zur Deutung solcher Leistungen des Kindes,    die  ich oben
       einführte, schließen alle logischen Processe von dem kindlichen Geiste
                                      Die spätem Leistungen des sprechen-
       in dieser Periode gänzlich aus :
       den Kindes und die allgemeine psychophysische Verfassung des noch
       nicht sprechenden.  Die ersten sprachlichen Aeußerungen des Kindes
       verrathen keine Spur von logischer Zusammenfassung zusammenge-
       höriger »Merkmale« oder Subsumption ähnlicher Objecto unter einen
       Gattungsbegriff.  Sie zeigen vielmehr nur das Spiel mechanisch wirken-
       der Association, welche die heterogensten Bestandtheile der Wahr-
       nehmungsobjecte durch Simultaneität oder associative Uebertragung
       mit einem Worte verbindet.   Wenn nun das sprechende Kind so
       viel später noch seine Wortbedeutungen durch das bloße Spiel der
       Associationsgesetze zu stände bringt und weder von einem Abstrahiren
       noch von   logischer Synthese zusammengehöriger Merkmale   irgend
       nennenswerthe Spuren zeigt, wie soll das noch nicht einjährige KJind
       bei den ersten Anzeichen seines Sprachverständnisses schon im Besitze
       sehr viel größerer logischer Leistungen  sein?  Noch entschiedener
       verbietet jene Auffassung  die  allgemeine  geistige Entwicklung  des
       Kindes vor Abschluss des ersten Lebensjahres.  Das Kind hat ja
       noch gar nicht die psychischen Mittel,        einen Allgemein-
       begriff zu bilden!    Seine äußerst labile Aufmerksamkeit vermag
       sich nur für wenige Secunden auf einen Gegenstand zu concentriren
       (daher scheitern anfangs  alle Versuche des Erwachsenen,  auf  den
       kindlichen Geist in bestimmter Richtung einzuwirken.  Vergleiche die
       Erfahrungen von Lindner und Baldwini).       Die Folge davon   ist,
       dass, wenn überhaupt eine Analyse des Wahrgenommenen in Theil-
       vorstellungen  oder Eigenschaften  stattfindet,  diese  jedenfalls nur
       äußerst primitiv  ist. Wahrscheinlich aberfindet gar keine Ana-
       lyse  statt.  Ich werde  später zeigen,  dass  die Bekanntschaft mit
       Eigenschaften der Dinge immer schon eine höhere geistige Leistung
       ist als  die mit den Dingen  selbst.  Idioten bleiben vielfach für  ihi:


           l) Lindper a. a. 0. S. 18.  Baldwin  a. a. 0. S. 80.
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