Page 181 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 181
Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. 169
Es ist nämlich unmöglich, aus dem wirklich der Beobachtung zugäng-
hchen Sprachverständniss des Kindes abzuleiten, dass es abstracte
akustische AVortvorstellungen von typisch allgemeinem Inhalt hat.
Ebenso ist es unmöglich, zu zeigen, dass das Kind Vorstellungen
von Eigenschaften oder Beziehungen besitzt, bevor die Sprache
beginnt. Es lässt sich aber weiter aus der allgemeinen geistigen Ent-
wicklung des Kindes um die Wende des ersten Lebensjahres beweisen,
dass das Kind solche Vorstellungen gar nicht besitzen kann, dass
sich vielmehr abstracte Bedeutungsvorstellungen beim Kinde erst
durch das eigene Sprechen und erst sehr viel später einstellen.
An der Hand der Thatsachen kann man sich nun keine andere Vor-
stellung von der Entwicklung des Sprachverständnisses machen als
die folgende.
Halten wir zunächst fest, dass wir für die Deutung des kindlichen
Sprachverständnisses in der Periode, in welcher es noch nicht spricht,
ganz und gar angewiesen sind auf die Deutung seines äußern Ver-
haltens. Dieses ist aber vieldeutig, denn ein und dieselbe äußere
Leistung — nehmen wir als Beispiel etwa die Hinwendung des Kopfes
Person —
zur sprechenden kann durch die allerverschiedensten
psychophysischen Vorgänge zu Stande kommen, sowohl durch sehr
einfache wie etwa durch bloße reflectorische Auslösung einer Kopf-
drehung auf Grund des äußern Reizes als auch durch bloße Asso-
ciation einer akustischen Empfindung mit jenen suchenden und locah-
sirenden Bewegungen, für welche wahrscheinhch anatomisch nach-
weisbare Bahnen und vererbte Dispositionen vorUegen^). Aber
dasselbe kann durch eine sehr \äel höhere Leistung zu Stande gebracht
werden, nämlich durch ein Verständniss für das, was die anrufende
Person meint, ein Interesse für die Person selbst und durch die
willkürUche Drehung des Kopfes nach der Schallrichtung. Wir
bedürfen also hier wie überall bei der kindlichen Entwicklung eines
bestimmten objectiven Anhaltspunktes, um uns vor der Eintragung
zu hoch entwickelter psychophysischer Leistungen in die kindliche
Sprachentwicklung zu schützen. Ich habe schon früher dargethan,
dass wii* zwei solcher objectiver Anhaltspunkte besitzen, die füi" die
1) Für die Wahrscheinlichkeit solcher Bahnen verweise ich auf die Unter-
suchungen von Held über den centralen Verlauf des N. acusticus. Archiv für
Anatomie, 1893.