Page 180 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 180
1 ßg E. Meumann.
intellectueller Elemente für die Entwicklung des ersten Sprach-
verständnisses ergeben.
Hören wir weiter, wie die Entwicklung des kindlichen Sprach-
verständnisses von Erdmann aufgefasst wird! Das Kind erwirbt
für einzelne, praktisch besonders bedeutsame unter den ihm bekannten
»Gegenständen« zunächst Wortvorstellungen rein akustischer Art,
indem es Benennungen von solchen Gregenständen hört; allmählich
kommen dazu zufällige Associationen von Gegenständen seines Ge-
sichtskreises und den Bezeichnungen dafür, welche die Personen
seiner Umgebung gebrauchen. Aus der Gehörswahrnehmung des
Blindes scheidet sich dadurch »eine Gruppe, die Lautworte der
Personen seiner Umgebung« aus den übrigen Gehörswahmehmungen
aus, und es lernt sie »auf bestimmte Gegenstände anderer Wahr-
nehmungsgruppen, anfangs namentlich optischer zu beziehen« u. s. w.
Um es mit einem Satze zu bezeichnen: Das Kind lernt allmählich
gewisse sachliche Lautvorstellungen aus den übrigen Sachvorstellungen
abzusondern und diese auf alle Sachvorstellungen als AVortvorstellungen
oder Bezeichnungen beziehen; nun können sich Wort- oder Bezeich-
nungsvorstellungen mit allmählich immer complicirter werdenden
Sachvorstellungen associiren. Ist das geschehen, so kann der be-
kannte Reproductionsapparat functioniren: das Hören der Worte
reproducirt Bedeutungsvorstellungen, die Wahrnehmungen der Dinge,
für welche Bezeichnungen erlernt worden sind, reproduciren die Worte.
So wird, wie ich schon bemerkte, jeder die Sache darstellen, der
vorzugsweise durch theoretische Ueberlegungen seine Auffassung von
der Entwicklung der Kindersprache gewinnt. Der Erwachsene hat
Sachvorstellungen und Wortvorstellungen ; das Kind muss also erstens
Wortvorstellungen, zweitens die Association zwischen Wortvorstellungen
und Sachvorstellungen erwerben. Also postulirt man einfach zuerst das
eine, dann das andere. Wir müssen hinzufügen, dass nach Erdmann 's
Meinung schon auf dieser Stufe akustisch aufgefasste »Wortgruppen«
Dinge, Eigenschaften, Vorgänge und Beziehungen, kurz : Bedeutungen
jeder Art bezeichnen können. Gleichzeitig entstehen beim Kinde
(wohlgemerkt, auf der Stufe des bloßen Sprachverständnisses!) ab-
stracto akustische Vorstellungen von allgemeinem Lihalt.
Es ist schade, dass Erdmann nicht versucht hat, seine Behaup-
tungen durch die Analyse wirkHcher Beobachtungen zu beweisen.