Page 176 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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E. Meumann.
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      das Kind selbst hervorbringt. Es vermag in Folge dessen die Laute
      nicht wieder zu erkennen.  Außerdem   aber  enthält der  qualitativ
      andere akustische Reiz auch einen Antrieb zu anderen  als den ge-
      wohnten Articulationsbewegungen. Diese Erklärung wird nicht wieder-
      legt durch Lindner 's Versuch, die kindliche Sprache nachzuahmen,
      welcher sein Kind nicht zum Sprechen veranlasste, weil  in diesem
      Falle andere Umstände störend gewirkt haben können.  Eine weitere
      Ursache  liegt in dem Unvermögen des Kindes,   seine Aufmerksam-
      keit auf das Vorgesprochene zu concentriren.  Die wichtigste Ursache
      aber sehe ich darin, dass die suggestive Einwirkung des Erwachsenen
      beim Vorsprechen   das Kind anfangs   in Verwirrung  bringt.  Die
      Reizbarkeit und Ablenkbarkeit  seiner Aufmerksamkeit  ist  so groß,
      der Umfang des Bewusstseins ist so gering,  dass die geringste Un-
      gunst der äußeren und inneren Bedingungen für die Hervorbringung
      bestimmter Laute seinen Sprechapparat versagen   lässt.  Das Vor-
      sprechen des Erwachsenen absorbirt die Aufmerksamkeit des Kindes
      so sehr,  dass  die Antriebe zum Nachsprechen gar nicht eintreten.
      Endlich sind es natürlich zwei ganz verschiedene Leistungen, wenn
      das Kind einen Laut spontan hervorbringt oder wenn es einen Laut
      nachahmen  soll. Im ersten Falle gelingt ihm der Laut rein zufällig
                        er kann das Ergebniss  einer zufälligen günstigen
      und thatsächlich ;
      Coordination seiner Sprechmusculatur sein; beim Nachsprechen hin-
      gegen müssen die Laute, welche gesprochen werden sollen, von ihm
      in gewissem Sinne gewollt werden. Während beim spontanen Lallen
      eine Succession von lauterzeugenden Bewegungen und Lauten vorliegt,
      muss beim Nachsprechen gegebener Worte an deren Stelle treten die
      Succession : Lautwahrnehmungen, Reproduction von Bewegungsempfin-
       dungen, Bewegungen, Laute.  Das Nachahmen vorgesprochener Worte
       ist daher in verschiedener Hinsicht eine höhere Stufe in der Entwick-
       lung der äußeren Sprachform als das spontane Lallen.  Es ist nicht
       mehr bloß ein Spielen mit den Sprechwerkzeugen, sondern ein will-
       kürliches Arbeiten mit denselben im Dienst der Lauterzeugung nach
       dem Muster der Erwachsenen.  Ich theile hier eine Beobachtung von
       Herrn Prof. Schmiedel   in Zürich mit, nach welcher mehrere von
       ihm beobachtete Kinder, bevor sie von der Stufe des spontanen Lallens
       zu dem Nachsprechen übergingen, eine Zeit lang vollkommen stumm
       waren.  Sie verhielten sich ausschließlich zuhörend.  In solchen Fällen
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