Page 174 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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E. Meumann.
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die sich außerordentlich schnell vermehren und in manchen Fällen
mit ungeheurer Mannigfaltigkeit von dem Kinde producirt werden.
Es entwickelt sich die wichtige »Stufe des spontanen Lallens«. Sie
beginnt etwa im Durchschnitt mit dem Ablauf des ersten halben
Jahres, sie dauert bei manchen Kindern sehr lange und ist von großer
Bedeutung für die Vorbereitung des späteren Sprechens. Sie besteht
darin, dass das Kind massenhaft articulirte Laute und Lautcomplexe,
die wiederum in den einzelnen Monaten verschiedenen Charakter
tragen, spontan hervorbringt. Laute, die keinesfalls der Mittheilung
oder Bezeichnung, selten der Aeußerung innerer Zustände dienen,
sondern einfach ein Spielen mit den eigenen Sprechwerkzeugen (ana-
log dem Spielen mit Armen und Beinen) darstellen. »Das Kind
ergötzt sich stundenlang an seinem eigenen Articulations-Conzert«
(Rzesniczek). Die verschiedenen Beobachter bezeichnen dieses Lallen
verschieden, bald als Pappeln, bald als Zwitschern (Taine), bald als
Lallen u. s. w.
Die Bedeutung dieser Vorstufe des Lallens besteht darin, dass
das Kind in den Besitz außerordentlich zahlreicher Articulations-
bewegungen gelangt (es erwirbt das Eohmaterial der Sprache, Taine),
d. h. es erlangt ebensowohl eine relativ große Herrschaft über seine
Sprechmusculatur als auch eine gewisse Verfeinerung in der Auf-
fassung der von ihm selbst hervorgebrachten Laute, so dass es vor
dem Beginn des eigentlichen Sprechens in der Regel die völlige Herr-
schaft über alle Articulationen, welche die erwachsenen Personen
seiner Umgebung ausführen, und einen großen Besitz von solchen
Articulationen, welche die Personen der Umgebung nicht sprechen
und nicht sprechen können, gewonnen hat. Innerhalb des spontanen
Lallens ist wiederum eine deutliche Entwicklung zu beobachten. Es
beginnt mit Vocalen, insbesondere mit a und ä und einer Anzahl
schwebender Vocale, die sich sprachlich schwer bezeichnen lassen.
Dann treten Consonanten in Verbindung mit Vocalen auf, wie es
scheint in den meisten Fällen zunächst Lippen- und Zungenlaute,
aber auch sehr oft phonetisch besonders schwierige Gutturallaute
{kraau u. s. w.), die hinten im Schlund mit tiefem Kehllaut ausge-
sprochen werden 1).
1) Die Beobachtungen von Fr. Schultze, Die Sprache des Kindes S. 20 ff.,
sind in diesem Punkte unzureichend.