Page 173 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. 161
jedenfalls nur die oben beschriebenen speciellen und allgemein
psychologischen Vorbedingungen. Denn sie arbeitet mit dem denkbar
geringsten "Wortschatz , mit verstümmelten Nachahmungen der Laut-
complexe erwachsener Personen, und mit sehr unbestimmten Bezeich-
nungen äußerst unvollkommen erfasster Wahmehmungsinhalte.
Dagegen braucht keine jener höheren geistigen Functionen in Kraft
zu treten, die wir als die Träger der logischen Processe, der Begriffs-
bildung, des Urtheilens und Schließens ansehen. Der Beweis dafür,
dass die ersten Worte des Kindes in der That keine dieser höheren
Functionen in Anspruch nehmen , wird im Folgenden ausführlich
gegeben werden.
Nächst diesen Vorbedingungen der Entstehung der kindlichen
Sprache mögen die Vorstufen derselben kurz angedeutet werden.
Unter »Vorstufen < hat man dabei nicht sowohl zeitlich auf einander
folgende, streng gegen einander abgegrenzte Entwicklungsphasen, son-
dern mehr einzelne Processe zu verstehen, die zeitlich zum Theil zu-
sammenfallen können, oder bei welchen doch nur sehr allmähhch der
höhere Process den niederen verdrängt. Man bezeichnet diese Vor-
stufen des eigentHchen Sprechens wiederum am besten nach beiden
Seiten der Sprachentwicklung, der äußeren, lautlichen und der inneren,
welche die Annäherung an die Gewinnung der ersten Wortbedeutungen
und an das spontane Sprechen in sich schließt. Mit großer Ueber-
einstimmung werden diese Vorstufen von den einzelnen Beobachtern
folgendermaßen angegeben: Die lautlichen Aeußeningen des Kindes
beginnen mit dem unarticulirten Schrei, der wahrscheinlich anfangs
durch Reflexbewegungen zu Stande kommt, bald aber dem Schmerz,
dem Unbehagen oder irgend welchen physischen Bedürfnissen Aus-
druck verleiht. Der Schrei differenzirt sich allmählich zu einem sehr
mannigfaltigen Schreien, sodass die Personen der Umgebung die
Aeußerungen gewisser Nuancen der Gefühle und der Bedürfnisse
des Kindes unterscheiden lernen. (Taine nennt dieses differenzirte
Schreien von der 7. Woche an: »intellectuelle Laute«, S. 296). Diese
Laute tragen anfangs den Charakter schwebender Vocale.
Hierauf beginnt vollkommen spontan, ohne dass die Wahrschein-
lichkeit einer Einwirkung der erwachsenen Personen bestünde, die
Verdrängung der unarticulirten Laute durch articulirte. Es werden
einzelne immer mit Vocalen verbundene Consonanten hervorgestoßen,
W u n d t , Philos. Studien . XX . JJ