Page 168 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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E. Meumann.
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      besondere müssen wir jedesmal, wenn ein bedeutungbildender Process
       — nehmen wir als Beispiel die Abstraction — als später eintretend
      oder in späteren Jahren noch nicht vorhanden erwiesen werden
      kann,  diesen von den früheren Entwickelungsstadien absolut aus-
      schließen. Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass dieser Grund-
      satz nur Bestimmungen negativer Art ergeben kann,    er kann nur
      zur Ausscheidung von Erklärungsmitteln verwendet werden. In diesem
      letzteren Punkte begehen fast alle bisherigen Erforscher der Kinder-
      sprache den Fehler, sich zu exclusiv mit dem Kinde der ersten zwei
      bis drei Lebensjahre zu beschäftigen.  Ich versuche dem gegenüber
      die Beobachtungen an dem fünf- und sechsjährigen Kinde, sowie die
      umfangreichen  Materialien,  die  uns  die  geistige Entwicklung  des
      Schulkindes erschließen, zu einer retrospectiven Deutung des unent-
      wickelten Kindes zu verwenden.
         Die Auffassung von den Processen, durch    die das Kind seine
      ersten Wortbedeutungen gewinnt und die ich für die allein mit den
      Thatsachen übereinstimmende halte, möge hier gleich zu Anfang mit
      einigen Worten dargelegt werden.  Die ersten Wortbedeutungen des
      Kindes sind ausschließlich emotioneller oder volitionaler Natur.  Seine
      ersten Worte sind Wunscliworte und Gefühlswörter.   Sie bezeichnen
      daher entweder gar keine Objecto oder Vorgänge, sondern nur Ge-
      fühle und Begehrungen, oder wenn sie zugleich Objectbezeichnungen
      sind, so ist diese Bedeutung eine mehr nebensächliche und sie sollen
      in Wahrheit  die emotionellen oder  volitionalen Beziehungen der
      Gegenstände zu dem Kinde bezeichnen.    Erst durch einen Process,
      den ich kurz  als Intellectualisirung   der ersten Worte bezeich-
      nen  will, werden die Wortbedeutungen gegenständlicher Natur (Be-
      zeichnungen von Wahrnehmungsinhalten, Dingen oder Vorgängen),
      ohne dass deren emotionelle Seite ganz zurücktritt.  Diese Intellectua-
      lisirung der ersten Wortbedeutungen  ist der erste Schritt zu einer
      zweiten Sprachstufe,  die ich  die  associativ-reproductive nenne  (mit
      Rücksicht  auf  gewisse  besondere Verwendungen  dieser  kindlichen
      Worte könnte man   sie auch die associativ-suggestive nennen).  Erst
      an diese schließt sich in sehr langsamer Vervollkommnung der Process
      der logischen Umbildung der  associativen Wortbedeutungen zu be-
      grifflichen Wortbedeutungen an.  Der letztgenannte ist der noch am
      wenigsten aufgeklärte Process der kindhchen Wortentwicklung.  Diese
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