Page 167 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. 155
treffende ist, indem es sich bei ihm einfach darum handelt, wie sich
heim Kinde Sachvorstellungen mit "Wortvorstellungen assocüren,
während von Sachvorstellungen in dem intellectuahstischen Sinne
Erdmann's beim Kinde lange Zeit nicht die Rede sein kann. Ebenso
wird sich ergeben, dass der Gang der Entwicklung der Wortbedeutung
ein völlig anderer ist, als Erdmann's schematische Betrachtungs-
weise angibt. Dieser Gang der Entwicklung ist in so hohem Maße
paradox, dass mit der allgemeinen Ueberlegung, wie wir uns diese
Entwicklung denken können, gar nichts zu machen ist.
Die Absicht meiner folgenden Ausführungen ist nun nicht die,
eine besonders gi*oße Fülle neuer eigener Beobachtungen zu erbringen
ich habe nur in so weit eigene Beobachtungen angestellt, als es mir
nöthig schien, um bestimmte Probleme durch Versuche an Kindern
klar zu stellen, und um die Objectivität der herrschenden Auffas-
sungen von der Entwicklung der Kindersprache nach eigener An-
schauung beurtheilen zu können. Es liegt mir aber einerseits daran,
durch die rein empirische, d. h. von aller Deduction aus entwick-
lungsgeschichtlichen, sprachwissenschaftlichen und allgemeinen psycho-
logischen Erkenntnissen freie Deutung der Thatsachen eine mögUchst
objective Auffassung von dem wahren Gange der ersten Processe der
kindlichen Sprachentwicklung zu gewinnen, anderseits möchte ich
einer Anzahl herrschender Irrthümer an Hand des Thatsachenmaterials
entgegentreten; endlich liegt es mir daran, eine Methode der Inter-
pretation der Kindersprache zur Geltung zu bringen, die ich für die
einzig berechtigte halte. Diese Methode besteht in der Durchführung
folgender drei Grundsätze:
1) Wo nicht besondere Gründe entgegenstehen, haben wir uns
die Wortbedeutungen, und die psychophysischen Processe, die bei ihrer
Gewinnung und Verwendung in Action treten, so einfach wie möglich
zu denken.
2) Wo die Wortbedeutungen des Kindes nicht vollkommen ein-
deutig sind, muss die allgemeine körperlich-geistige Entwicklung
(richtiger > Entwickeltheit«) des Kindes die maßgebenden Gesichts-
punkte für die Interpretation abgeben.
3) Wenn irgend möglich, muss die Deutung der kindlichen Worte^
ihrer Gewinnung und Verwendung aus späteren Entwicklungs-
stadien geschehen, die der Beobachtung besser zugänglich sind. Ins-