Page 169 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.  157

      Entwicklung kommt auch    in der  > äußeren Sprachform«  , sogar in
      der Grammatik des Kindes und     in seinem Vocabularium   deutlich
     zum Ausdruck, indem die ersten Worte des Kindes sämmtlich Satz-
     worte  sind, — denn   ein Wunsch- oder Begehrungswort    ist noth-
     wendig auch ein Satzwort *).  Ich behaupte daher,  dass nicht nur,
     wie zuerst Romane s und Waitz festgestellt haben, die Sätze des
     Kindes mit   sogenannten Satzworten  beginnen,  sondern  die ersten
     Worte des Kindes sind überhaupt Satzworte. Die Wortfunction
     des Wortes entwickelt sich erst aus seiner Satzfunction
     durch  einen  einschränkenden  Process.  Der  natürhche Gang   der
     Sprachentwicklung  ist  in diesem Punkt  völlig paradox.  Niemand
     würde aus Ueberlegungen a priori die Satzbedeutungen vor die Wort-
     bedeutungen  stellen.  Die erste grammatische Stufe des Kindes,
     die den Wunschworten entspricht, trägt einen verbal-interjectionalen
     Charakter (John Dewey).
         Ich werde in den folgenden Ausführungen   die Entwicklung der
     »innem Sprachform«    f Steinthal)  von der der  »äußern«  getrennt
     behandeln.  Hierbei begeht man natürlich   eine Abstraction, da in
     Wirklichkeit  sich innere und äußere Sprachform, Wortbedeutungen
     und lautlicher Charakter der Worte und ihrer Zusammensetzung zu
     Wortcomplexen beständig beeinflussen. Um die aus dieser Abstraction
     hervorgehenden Fehler zu vermeiden, ergänze ich meine Darstellung
     durch die Hinweise darauf, wie sich die Hauptpunkte der inneren
     Entwicklung der Sprache    in der äußeren Sprachform ankündigen
     und wie  diese wiederum auf jene   zurückwirkt.  Ich verstehe dabei
     unter der inneren Sprachfonn   die Wortbedeutung und werde nur
     anhangsweise einen Blick auf die Entwicklung derjenigen   geistigen
     Inhalte werfen, die das Kind mit seinen ersten Sätzen bezeichnet.


     1. Vorbediugungen und Vorstufen der kindlichen Sprachentwickluug.

        Die ersten Spuren eines Sprechens   sinnvoller Worte treten im
     Durchschnitt bei normal entwickelten Kindern um    die Wende des


         1) Der naheliegende Einwand, dass "Wunschwörter auch Urtheile enthalten,
     also nicht zur rein associativen Sprachstufe gehören, besteht für mich nicht; die
     kindlichen >Wünsche«  sind  in  dieser Zeit nichts  als Gefühle und Begehrungen,
     die von einem Wahmehmungscomplex ausgelöst werden.
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