Page 172 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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^ßQ                       E Meumann.
       Gedächtniss, vor allen auch  das Gemüthsleben  ,  ja selbst specielle
       Triebe, wie der Nachahmungstrieb, müssen durchaus intact sein und
       dem Durchschnittsmaß des in dieser Periode erreichbaren entsprechen.
       Wenn auch nur eine dieser allgemeinen psychologischen Vorbedin-
       gungen für die Entwicklung der Sprache nicht oder nicht genügend
       erfüllt  ist,  so  bleibt die Sprache ganz aus oder  sie verzögert sich
       in abnormer "Weise.  Die Aufmerksamkeit des Kindes muss dasjenige
       Maß von Concentrationsfähigkeit erreicht haben, das zu  einer Be-
       obachtung  der Laute und    lauterzeugenden Bewegungen und    des
       Gebärdenspieles der erwachsenen Personen nöthig   ist^ ebenso aber
       die Energie zur Ueberwachung der eigenen    Sprachversuche.   Das
       Gedächtniss muss lautliche,  optische und motorische Eindrücke be-
       stimmter Art  festhalten können.  Sie müssen wiedererkannt   oder
       durch Uebung befestigt werden können,    "Wie wichtig  der Antheil
       des Gedächtnisses an der Sprachentwicklung   ist, mag man daraus
       entnehmen, dass Tr eitel dazu neigt, als die eigentliche Ursache der
       partiellen Hörstummheit  Schwäche   des  Gedächtnisses  anzusehen
       (Treitel, A.  i. K., Seite 654).  Ich  selbst möchte  die meisten der
       von Treitel angeführten Fälle vielmehr  so  deuten, dass Gemüths-
       anomalien  es  sind, welche  die Kinder am Sprechen verhindern, da
       fast bei allen Hörstummen die abnorme Beschaffenheit des Gemüths-
       und Willenslebens  besonders  hervorgehoben  wird.  Wenn Treitel
       selbst  dies  als Wirkung der Hörstummheit ansieht nach Analogie
       mit dem bösartigen Charakter  vieler Taubstummen,  so  dürfte dem
       entgegenstehen, dass nach allgemeinen psychologischen Erfahrungen
       Gedächtnissschwäche  durch  einen Defect  in  den Functionen  der
       Aufmerksamkeit   und  des  Gemüthslebens   ganz  besonders  häufig
       bedingt wird  (vergl.  die  S. 634 angeführten Fälle von angeborner
       Hörstummheit Treitel a. a. 0.).  Auch das Ausbleiben   des Nach-
       ahmungstriebes kann für sich genügen, um Hörstummheit zu erzeugen.
       Ebenso  scheint jede Art von Kränklichkeit oder "V^erzögerung der
       allgemeinen physischen Entwicklung eine "Verspätung der Sprache zu
       bedingen.
          Diese Andeutungen über   die Wichtigkeit der allgemeinen "Vor-
       bedingungen der Sprachentwicklung mögen genügen.     Die Sprache,
       welche das Kind, gegen das Ende    des ersten Lebensjahres oder in
       der  ersten Hälfte  des  zweiten Jahres auszuüben  pflegt,  erfordert.
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