Page 182 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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E. Meumann.
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Deutung der kindlichen Sprache verwendet werden können, nämlich
einerseits die allgemeine psychophysische Entwicklung des Kindes,
anderseits die beständige Vergleichung späterer Leistungen des Kindes,
die einer unzweideutigen Beurtheilung zugänglich sind, mit den frühern
wenn sich also z. B. zeigt, dass das sprechende Kind erst mühsam
gewisse geistige Verrichtungen erwerben muss, so dürfen wir diese
bei dem noch nicht sprechenden Kinde auf keinen Fall voraus-
setzen. Nach dem ersteren Maßstab gemessen können wir uns nun
die ersten Aeußerungen des kindlichen Sprachverständnisses gar
nicht primitiv genug vorstellen, wir haben sie jedenfalls als
Associationen elementarster Art zu denken, bei denen auch
nicht ein Schatten logischer Thätigkeit, von Abstraction oder Deter-
mination, von Auswahl zusammenhängender »Merkmale« u. dgl. mehr
vorhanden ist. Da wir ferner aus allgemein psychologischen Ueber-
legungen wissen, dass das Wiedererkennen außerordentlich viel leichter
ist als die selbständige Reproduction , so müssen wir auch beim
Kinde, solange es irgend möglich ist, sein Sprachverständniss mittelst
bloßen "Wiedererkennens ohne selbständige Reproduction zu deuten
versuchen. Ich werde später zeigen, dass aller "Wahrscheinlichkeit
nach das erste Sprachverständniss des Kindes ganz und gar ohne
selbständige Eeproduction stattfindet.
Wie zeigen sich nun die ersten Spuren des kindlichen Spracli-
verständnisses ? Der Schein eines gewissen Verständnisses für die
Sprache der Personen der Umgebung tritt außerordentlich früh auf.
Schon in den ersten Monaten, manchmal schon am Ende des zweiten
Monats können Personen der Umgebung durch Zureden und Anreden
auf die Gefühle des Kindes einwirken; die Stimme der Mutter, der
Kjnderwärterin wirkt beruhigend auf das Kind, die des Vaters oder
anderer Personen noch nicht. Hierin liegt eine erste Spur von Ein-
wirkung der Sprache der Erwachsenen auf das Seelenleben des
Kindes. Dies ist aber sicherlich keine Spur von Sprachver-
ständniss, sondern wohl nur eine differenzirte Suggestion. Vielleicht
verbindet sich mit der Stimme der Mutter, ebenso mit ihrer ganzen
Art das Kind zu behandeln, eine elementare psychophysische Nach-
wirkung der Erfahrung von der Stillung der kindlichen Bedürfnisse.
Diese Nachwirkungen leben wieder auf, wenn die bekannten Stimmen
akustisch auf das Kind einwirken; sie treten nicht in Kraft, wenn