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KULTUR
naus bekannt zu machen. und den Sog des Erinnerns. Im zweiten Teil dafür
Eingereicht werden die Vorschläge von Verlagen explodiert die Story, die Protogonisten reissen
aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die sich selbst aus der Trauerlähmung heraus und
eingereichten Vorschläge müssen von Schweizer brechen auf.
Schriftstellerinnen und Schriftstellern oder in der
Schweiz lebenden Schriftstellern zwischen Ok- Viele Überraschungen
tober des Vorjahres (2019) und September des Anna Sterns Roman überrascht nicht nur inhalt-
laufenden Jahres (2020) erschienen und deutsch- lich, sondern auch formal.
sprachige Originalausgaben sein. Ichor, Anankes ehemaliger/e Nachbar/in erzählt
Der Schweizer Buchpreis ist mit Fr. 42‘000.- do- von der Zeit nach Anankes Tod und von der Zeit
tiert. Das Preisgeld für den Gewinner/ die Gewin- davor, den Erlebnissen als Kinder, als Jugendliche,
nerin beträgt Fr. 30‘000.-, die Nominierten erhal- als junge Erwachsene, mit Ananke zusammen
ten je Fr. 3000.-. oder in der Gruppe mit Freunden, in der kleinen
Stadt.
Die Jury
Die vom Leitungsausschuss jährlich berufene Der Erzählfluss wird in zwei Teilen gesponnen.
fünfköpfige Jury stellt aus der Gesamtliste der Der erste Teil erzählt auf jeder linken Buchseite
eingereichten Bücher eine Nominationsliste mit in schwarzer Schrift von der Zeit nach Anankes
fünf Werken zusammen, die im September publi- Tod und rechts in grauer, etwas blasserer Schrift
ziert wird. Aus dieser Nominationsliste bestimmt von den Erinnerungen aus der gemeinsamen
die Jury die Preisträgerin oder den Preisträger Zeit mit Ananke, vor der Krankheit, vor dem Tod.
des Schweizer Buchpreises. Die Entscheidung Durch diesen Formaufbau zieht das Werk die Le-
wird von der Jury schriftlich begründet. Die Mit- ser magisch in den Sog der Trauer, mitten hinein
glieder der Jury sind in ihrer Entscheidfindung un- in die nicht zu beantwortenden Fragen, ob das
abhängig. Als Mitglieder der Jury des Schweizer alles auch ganz anders hätte kommen können.
Buchpreises 2020 wurden Tommy Egger, Daniel Die Textstücke in diesem ersten Teil erzählen un-
Graf, Annette König, Christine Richard und Hu- abhängig voneinander. Manchmal muss man im
bert Thüring berufen. Buch hin und her blättern, um mit beiden Erzähl-
strängen gleichauf zu sein. Weglegen kann man
Das gekürte Werk von Anna Stern es aber nicht.
Der zweite Teil des Buches ist anders, hier erzählt
die Autorin in einem Strang von Anankes Freun-
den, die am tiefsten Punkt ihrer Trauer beschlies-
sen aus der Trauer auszubrechen und in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion auf den Friedhof zu fah-
ren.
Geschlechtslos
Nicht nur die unterschiedlichen Erzählstränge
überraschen die Leser, es gibt weitere formale
Neuheiten, so ist im ganzen Buch ausser den Na-
men nichts grossgeschrieben, auch nicht die Sat-
zanfänge. Alle Namen im Buch sind geschlechts-
»das alles hier, jetzt.« handelt vom Umgang mit los, man kann sie keinem Geschlecht zuordnen
dem Tod. Stern beschreibt im ersten Teil eindring- und so begegnet man in dieser Erzählung nicht
lich die Ohnmacht in den Wochen nach dem Tod Frauen und Männern, sondern einfach nur Men-
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