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Volkstrauertag – ernste Mienen, gedeckte Kleidung, in sich gekehrte Nachdenklichkeit und eine fast körperlich spürbare Grabesstimmung! Volkstrauer- tag – also wieder so ein Relikt überkomme- ner Zeiten, ein Tag, an dem wir uns reuig an die Brust schlagen und an dem mit ein- dringlichem Duktus über Verantwortung geredet wird?
Passt das nicht eher zu den dunklen Kapi- teln unserer Geschichte, an die wir doch eigentlich gar nicht mehr erinnert werden wollen. Ist das nicht etwas für unsere Groß- eltern, wenn sie mal wieder in die Motten- kiste finsterer Erinnerungen greifen und mahnend den Finger heben?
Trauer passt doch auch nicht zum hedo- nistischen Alltag, passt nicht zu Zeiten von Glanz und Glamour, passt zwar zu Corona, aber nicht zu Klamauk und immerwähren- dem Karneval. Vom Volk zu reden, das trau- ern soll, macht heute in vielerlei Hinsicht verdächtig. Bösmeinende bringen den Gedenktag vielleicht sogar mit Revan- chismus und Rückwärtsgewandtheit in Verbindung.
Ist uns die Bedeutung des Volkstrauerta- ges eigentlich noch wirklich bewusst, ist er uns zwischen Halloween und Nikolaus mehr als eine bloße Randnotiz im Kalender, ist er uns mehr als lästige Pflicht? Kann er uns vor allem mehr sein?
Ich denke ja. Der Volkstrauertag ist eigent- lich genau das, was Politik, Gesellschaft und Jugend braucht, um Antworten auf die großen Fragen der Zeit zu finden. Ein tragfähiger Ankerpunkt, an dem sich ver- antwortungsbewusste Friedens- und Zukunftsgestaltung festmachen lässt. Volkstrauertag, das ist eine in Gegenwart und hoffentlich auch Zukunft wirksame Ver- gangenheit, die jeden von uns als Indivi-
Leider ohne Publikum: Die Kränze sind niedergelegt
Deutsche Marine/Deutscher Marinebund
Für eine verantwortungsbewusste
Friedens- und Zukunftsgestaltung Gedenken, das in die Pflicht nimmt
Rainer Brinkmann
Am 13. November 2020 hielt Vizeadmiral Rainer Brinkmann, Stellvertreter des Inspekteurs der Marine, Befehlshaber der Flotte und Unterstützungskräfte, anlässlich der Kranzniederlegung zum Volkstrauertag am Marine-Ehrenmal in Laboe folgende bedenkenswerte Rede (Es gilt das gesprochene Wort!).
duum, als handelndes Subjekt in die Pflicht nimmt.
Vor 75 Jahren endete der zweite Krieg, der einmal mehr die ganze Welt in Brand setzte. Es war das Ende eines Krieges, der über 80 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Es war das Ende eines Krie- ges, der Hunderttausenden Seeleuten – Soldaten und Zivilisten – den Tod brachte. Und, es war das Ende eines Krieges, in dem Andersdenkende und Andersgläubige durch ein faschistisches Regime auf bru- tale Weise verfolgt und ermordet wurden – und die dabei unendliches Leid erfah- ren haben. Dieser Krieg, dieser Terror, die- ses Leid ging von deutschem Boden aus. Heute gedenken wir aller Opfer von Krieg, Gewalt, Terror und Verfolgung.
Uns kommt es dabei besonders zu, die Opfer der dunkelsten Stunden deutscher Geschichte niemals in Vergessenheit gera- ten zu lassen. Die Erinnerung an sie muss uns ein Mahnmal sein. Die Erinnerung zeigt aber auch, dass es selbst in der dun- kelsten Stunde der Geschichte jene gab, die anders waren. Die Erinnerung zeigt, dass man auch in der dunkelsten Stunde der Geschichte einstehen konnte für das,
was richtig war. Die Erinnerung zeigt, dass man auch in der dunkelsten Stunde der Geschichte Mensch sein konnte.
Die Erinnerung zeigt vor allem, dass wir es sind – jeder einzelne von uns und wir alle zusammen – die Verantwortung tragen für das Heute und Morgen. Und hinter die- sem „Wir“ kann und darf sich niemand verstecken. Jeder einzelne trägt Verant- wortung: Für das, was er tut, aber auch für das, was er nicht tut. Jeder einzelne ist aufgefordert, Stellung zum Geschehen in Politik und Zeitgeschichte zu nehmen und sich zu Wort zu melden. Damit sich nie- mals wiederholt, was sich nicht wieder- holen darf.
Und so schlägt die Erinnerung an die Ver- gangenheit zugleich eine mahnende Brü- cke in Gegenwart und Zukunft. Eine Mah- nung, dass Hass und Gewalt niemals wie- der einen Platz in unserem Land haben dürfen. Eine Mahnung, dass Frieden und Verständigung zwischen Menschen und Völkern niemals leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden dürfen. Und eine Mah- nung, dass Freiheit, Recht und Demokra- tie in diesem Land niemals kampflos auf- gegeben werden dürfen.
Leinen los! 1-2/2021 11
Foto: Bundeswehr/Marcel Kröncke