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Kapitän. Nach der Eidesleistung fragt ihn der Direktor des Seeamtes, „ein Herr in Frack und schwarzer Binde“, der, flan- kiert von vier Beisitzern, allesamt Kapitä- nen, den Vorsitz der Verhandlung führt, ob er den Vorfall gesehen habe. Nein, gibt der Kapitän zu Protokoll, er sei auf der Brücke gewesen und erst nach unten gekommen, als man dem Mann bereits ein Tau um den Leib geschlungen und ihn an Deck gezogen habe. Wer seiner Meinung nach schuld an dem Unfall sei, wird er gefragt. Schuld an dem Vorfall treffe keinen, so der Kapitän. Der zu Tode Gekommene sei immer einer der arbeits- willigsten Matrosen gewesen: „Niemand hat ihm Befehl gegeben, er war eben ein eifriger Seemann. Solche Leute findet man heutzutage selten. Schade um den Mann!“ Und Kisch resümiert: „Die Beisit- zer nicken. Schade um den Mann! Acht Monate Fahrt, Gefahren, Ostasien, end- lich im Hafen. Da dreht sich der Anker und schlägt ihn tot. Solche Leute findet man heutzutage selten.“
Am Ende des Falles mischt sich noch der Reichskommissar, „ein alter Vizeadmiral, auch in Frack und schwarzer Binde“, in die Verhandlung ein: „Sie sollten eben sofort mit einer Stake das Seil lösen lassen. Ich will Ihnen das nur sagen, damit sie nächs- tes Mal wissen, was sie zu tun haben.“ Nach einer Befragung des Schiffsarztes, der angibt, dass ein Schädelbasisbruch den Tod des unglücklichen Matrosen her- beigeführt habe, zieht sich „der Gerichts- hof“ zur Beratung zurück, fünf Minuten später verkündet der Vorsitzende den Spruch des Seeamtes: „Der Matrose ist dadurch tödlich verunglückt, daß er mit dem Kopf zwischen Ankerflügel und Bord- wand gequetscht wurde. Es trifft niemand ein Verschulden an dem Vorfall.“ Nächs- ter Fall.
Ein Matrose auf dem Heringslogger marie der Kieler Hochseefischerei A.G. geht nachts im Altonaer Fischereihafen außen- bords und ertrinkt. Vertagt – weil der als Zeuge vorgeladene Wachtmeister nicht erschienen ist. Dann wird der Fall eines Matrosen verhandelt, der im Hafen von einem herabfallenden Kranhaken erschla- gen wurde. Kisch packt schließlich seine Sachen zusammen und will gehen, da nähert sich ihm leutselig ein Zuschauer, der den berühmten Reporter erkannt hat: „Nichts Besonderes, was?“ – Oh, mich hat es schon interessiert“, antwortet Kisch. Doch der Zuschauer winkt ab, das sei heute nichts gewesen. Tod von Matro-
Kapitänsbild der Bark J.H. raMien, Elsfleth (ähnlich Margaretha)
Geschichte
Museumskabinett „Seeamt“
sen im Hafen. Das komme jeden Tag vor. „Sie hätten vorige Woche da sein sollen! Da war ein Schiffszusammenstoß mit zehn Millionen Mark Materialschaden – das war interessant! Es wurden achtzig Zeugen vernommen. Aber wegen eines Matro- sen kann man doch nicht so viel herma- chen.“ Erlebnisse eines rasenden Repor- ter in den Untiefen und Abgründen der Gesellschaft, die sich auch im Zuschau- erraum einer Seeamtsverhandlung auf- tun können.
Am 5. Dezember 1875 lief der Transatlan- tikdampfsegler deutschlaNd des Nord-
deutschen Lloyd in der Themsemün- dung auf Grund, 57 Tote waren zu bekla- gen. Dieses Unglück führte 1877 zur Ver- abschiedung des Reichsgesetzes zur Untersuchung von Seeunfällen und in der Folge zur Einrichtung von Seeämtern in den deutschen Küstenländern, in Königs- berg, Danzig, Stettin, Stralsund, Rostock, Lübeck, Flensburg, Tönning, Hamburg, Bremerhaven, Brake und Emden. Heute befinden sich Seeämter als Untersu- chungsausschüsse der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes in Hamburg, Bremerhaven, Emden, Kiel
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Foto:: Schiffahrtsmuseum Unterweser Foto:: Schiffahrtsmuseum Unterweser


































































































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