Page 37 - LL 9/2022
P. 37

Geschichte
schlagen oder fliegen weg, einige können noch abgeschnitten werden. Dann Her- stellen des Verschlusszustandes, nament- lich an Backbordseite, wo nach Aussage des Überlebenden Karl-Heinz Kraaz noch nach dem All-hands-Alarm Wasser in die nachts offen gelassenen Bulleyes und in die Lüfter einläuft und, so sein Kamerad Hans-Georg Wirth, schon „bis über die zweite Schublade gestanden“ habe. Eine Eimerkette wird gebildet, die bald dar- auf aufgegeben wird, auf Luvseite werden Strecktaue gespannt. Die zweiteiligen Stahlschotttüren an den Eingängen zur Poop sind bei der plötzlichen Zunahme des Sturmes noch nicht eingesetzt, spä- ter können nur noch deren untere Teile, nachdem bereits Wasser eingebrochen war, befestigt werden.
Um 10.36 Uhr Ortszeit fängt das Motor- schiff PEnn trAdEr eine Dringlichkeitsmel- dung („XXX“) auf: „XXX fourmastbark pamir drifting in heavy hurricane without sails in position 35,57 N 40,20 W. please ships in vicinity give position. answer 480 kHz.“ Um 11.00 Uhr dann die Seenotmel- dung: „SOS SOS SOS here german four- mastbark pamir at position (s.o.). All sails lost, lopside 35 degrees, still gaining, ships in vicinity please communicate. master.“ Zum Zeitpunkt der ersten Meldung hat das Schiff bereits 30 Grad Schlagseite nach backbord und treibt ohne Segel im Orkan. Einige Kadetten haben ihre Foto- apparate herausgeholt und versuchen noch, Aufnahmen zu machen. Man rech- net an Bord offensichtlich noch nicht mit einem drohenden Untergang. PAmir steht nun in Funkverbindung mit vier Schiffen und fordert sie per Funk zu Kontaktauf- nahme und Bereithalten auf. Dann aber um 11.52 Uhr an Motorschiff PrEsidEnt tAy- lor: „please proceed to us immediatly. master“.
An Bord wird derweil das Anlegen der Schwimmwesten befohlen, Zigaretten und Schnaps werden ausgegeben. Die Schlagseite nimmt weiter zu auf 45 Grad, die Rahnocken tauchen zeitweise in die See ein.
Um 11.54 Uhr funkt PAmir: „SOS, SOS, SOS de DKEF rush rush to us, german four- mast broken pamir danger of sinking. master“ und kurz darauf: „now speed ship is making water danger of sinking“ – der letzte vollständig empfangene See- notruf der PAmir. Sechs Minuten später ist noch ein verstümmelter Funkspruch der PAmir an PrEsidEnt tAylor zu hören. Dann Stille. Gegen 13.00 Uhr kentert das Schiff
über Backbord-Bug. Die Besatzungsan- gehörigen an Oberdeck „fielen alle mit einem Schwung ins Wasser, also alle einer auf den anderen rauf“, so Dummer. Ret- tungsboote können aufgrund der extre- men Schlagseite nicht mehr zu Wasser gebracht werden. Boot 6 wird noch vor dem Kentern durch Seeschlag aus den Halterungen gerissen, über Bord gespült und am 22. September von einem Such- schiff leer aufgefunden. Andere Rettungs- boote reißen sich beim Kentern los, trei- ben in der See.
Als das Schiff überholt, so berichtet es Karl-Otto Dummer, fallen oder springen alle, die sich an Oberdeck befinden, ins Wasser, einige werden vermutlich beim Kentern des Schiffes erschlagen. „Als ich auftauchte“, so der Überlebende Folkert Anders, „war die Wasseroberfläche voll von Köpfen“. Viele schlucken Wasser, werden ohnmächtig, die Schwimmwes- ten halten das Gesicht nicht über Was- ser, sie sterben in der See. „Vielleicht eine halbe Stunde später“, so Dummer, „sah man nur noch vereinzelt hier zwei und da einen, nach einer Stunde sah man ein- zelne überhaupt nicht mehr.“ Das Schiff liegt nach dem Kentern einige Minuten flach im Wasser, kentert dann weiter, treibt kieloben und sinkt nach 20 bis 30 Minuten über den Bug. Im Rumpf vorhandene Luft, so beobachten es Karl-Otto Dummer und Hans-Georg Wirth, entweicht mit schril- lem Pfeifen und einer gelblichen, mög- licherweise mit Getreidestaub angerei- cherten Fontäne. In zwei in der See trei- bende Boote, Nr. 2 und Nr. 5, können sich Besatzungsangehörige retten.
Dann beginnt, unter riesigem Medien- interesse, die größte Seenotrettungsak- tion, die die Welt bis dahin gesehen hat: Mindestens 60 Schiffe und täglich bis zu 11 Flugzeuge aus verschiedenen Län- dern suchen insgesamt sieben Tage lang nach Schiffbrüchigen. Rettungsboot 5
Der Frachtsegler
löscht Getreide in Brake
Tür im Deckshaus der PAmir
wird 54 Stunden nach dem Untergang am 23. September morgens vom US-ameri- kanischen Dampfer sAxon entdeckt; im Boot sind fünf Überlebende, der Kochs- maat Karl-Otto Dummer, die Leichtma- trosen Klaus Fredrichs und Hans-Georg Wirth und die Schiffsjungen Folkert Anders und Karl-Heinz Kraaz. Am dritten Tag nach dem Untergang, so berichtet es später Dummer, fällt leichter Regen, nur noch fünf Mann sitzen im Boot, bis zur Brust im Wasser, das bereits große Löcher in die Haut geätzt hatte. Dann bildet sich ein Regenbogen, „ein riesiges Tor, und mitten aus diesem Tor heraus kommt mit mächtig schäumender Bugwelle ein Schiff“. Die Insassen des Bootes schreien zusammen „SOS-SOS-SOS!“, schwimmen
Leinen los! 9/2022 37
Fotos: Schiffahrtsmuseum Unterweser (5)


































































































   35   36   37   38   39