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Geschichte
Fundament politischer Einheit. Die Brü- der, geboren im hessischen Hanau, waren zudem europaweit bekannt geworden als Teil jener sieben Professoren der Göttin- ger Universität (Göttinger Sieben), die 1830 nach ihrem Protest gegen die Auf- hebung der Verfassung durch den han- noverschen König Ernst August von die- sem aus dem Staatsdienst gejagt wor- den waren. Jacob und Wilhelm werden erst 1840 vom preußischen König Fried- rich Wilhelm IV. „amnestiert“ und an die Berliner Universität berufen, um dort das von ihnen begonnene Mammutwerk des „Deutschen Wörterbuches“ zu vollenden. In Frankfurt wird Jacob Grimm auf Vor- schlag von Ludwig Uhland mit stürmi- schem Beifall durch Zuruf zum Tagungs- präsidenten gewählt. „Die Politik bleibe unserem Treffen fern“, hatte er gleich ein- gangs listig und wider besseres Wissen verkündet. Denn nun verhandelte man in Plenarsitzungen und Fachausschüssen vielmehr hochpolitisch deutsches Recht, deutsche Sprache und das „deutsche“ Schleswig-Holstein, das sich der däni- sche König gänzlich seinem Staat einzu- verleiben suchte. Kurzum, es ging auf die- ser Versammlung, die ihn, so Grimm, „an die alten Hoftage der deutschen Könige gemahne“, juristisch, sprachwissenschaft- lich und historisch um die nationale Ein-
Christian Friedrich Wurm (1803–1859)
heit der Deutschen in einem einheitlichen Sprach-, Rechts- und Kulturraum – oder wie dies Jacob Grimm formulierte: „Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, wel- che dieselbe Sprache reden.“
Dann zogen die „Germanisten“ wei- ter. „Als Ort der nächsten Versammlung schlug der Vorsitzende Lübeck vor, eine an Thaten wie an Gesinnung reiche Stadt, die dem Meere nahegelegen mächtig an Vergangenheit und Zukunft des Vaterlan- des mahne“, so die „Allgemeine Zeitung“ aus Augsburg vom 22. Oktober 1846. Also auf zum nächsten mythischen Ort, der zudem im Zentrum aktueller politischer Konflikte stand, jenem Streit um die Ein- gliederung Schleswig-Holsteins in den dänischen Staat. Man tagte in Lübeck, der „Königin der Hanse“, ehedem Führungs- zentrum einer europäischen Supermacht, der seegestützten „dudeschen hanse“, dort wo 1356 der erste Hansetag stattge- funden hatte und hier auch bis 1669, dem letzten, verblieb.
So reisten 1847 im September 170 Ger- manisten ans Ostseegestade, vorneweg die Grimms, von denen allerdings Wil- helm gleich nach Ankunft im rauen Mee- resklima von einer derart heftigen Grippe niedergestreckt wurde, dass er an der Tagung nicht teilnehmen konnte. Zu den Gelehrten, die wie schon in Frankfurt, mit einem bunten Beiprogramm aufwarteten, gesellten sich noch über tausend Sänger, die in der ganzen Stadt vaterländische Lie-
der erklingen ließen, die Presse berichtete ausführlich und ein Buch mit allen Vorträ- gen, Akten und Protokollen der Tagung wurde schließlich auch der Druckerpresse übergeben.
„Hofrath Dr. Jacob Grimm von Berlin“, wie ihn die Teilnehmerliste verzeichnet, wurde erneut zum Vorsitzenden der Ver- sammlung gewählt, die nun am 27., 28. und 30. September über die Bühne ging. Tagungsort die Reformierte Kirche der Hansestadt, gespeist wurde im Schau- spielhaus und in einem Gewölbe des Lübecker Rathauses, das seitdem den Namen „Germanistenkeller“ trägt.
Die Themen einer Erneuerung der deut- schen Gerichtsverfassung, die Bedeutung der Hanse als traditionsreicher maritimer deutscher Global Player und die an der Spitze der Agenda stehende Schleswig- Holstein-Frage waren auch hier wieder genauso unpolitisch wie die „Unpoliti- schen Lieder“ Hoffmanns von Fallersle- ben, aufgrund derer er als „Demagoge“ seine germanistische Professur in Bres- lau verloren hatte. Und so tagte man, so Jacob Grimm, in „der von dänischer Schnürbrust gezwängten, aber vollauf deutsch athmenden Mutter der glorrei- chen Hansa“.
Als erster trat der Professor des Ham- burger Akademischen Gymnasiums, Dr. Christian Friedrich Wurm, ans Rednerpult. Der schwäbische Theologe und Historiker hatte lange in England als Lehrer und Pub- lizist gelebt und war dort zum See- und Handelsrechtsspezialisten geworden. In seinem Vortrag „Das nationale Element in der Geschichte der deutschen Hansa“ bringt er angesichts der verblichenen Glo- rie und Macht der Hanse nun umso ener- gischer den Gedanken der Erneuerung der alten hansischen Tradition und die Wiederaufrichtung deutscher Seemacht auf die Agenda: „Und wie der Bund zer- fiel, wie seine Seemacht gebrochen war, so war des deutschen Volkes Seemacht dahin für lange Jahrhunderte. Aber das sagt sich Jeder, der an eine Zukunft glaubt: nicht für immer!“, so Wurm trot- zig, um sodann den „gegenwärtigen wehrlosen Zustand“ der Nation gegen die Seeblockade der Dänen zu beklagen: „Daß eine so große Nation ihre Einheit dem Ausland gegenüber nicht geltend zu machen weiß, daß der geringste Staat ihr jeden Schimpf anthun kann, und sie hat keine Waffen, dem zu begegnen.“ Das war nichts anderes als der Ruf nach mariti- men Mitteln zur See, einer Flotte, um den
Lübecker Hansekogge, gebaut 1926, gesunken 1950. wikimedia commons/ Postkarte von Aron Münden
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wikimedia commons/Lithografie: Otto Speckter