Page 41 - Leinen los 7-8/2024
P. 41

Um fünf Uhr morgens hatte sich der Hofzug von Spa aus Richtung hol- ländische Grenze in Bewegung gesetzt.
Da man befürchtete, bei der Durchfahrt durch den Bahnhof von Lüttich von Revo- lutionären ergriffen zu werden, war der Kaiser in ein Auto umgestiegen. Doch das Zollamt Withuis hat noch geschlossen. Es öffne erst um sieben, teilt der Wach- habende mit, und außerdem dürfe er bewaffnete Personen ohnehin nicht pas- sieren lassen. Nach einigem Hin und Her geht dann doch der Schlagbaum hoch, doch zwei Kilometer weiter, am Bahnhof von Eijsden, hat der Kaiser mit Gefolge erst einmal wieder zu warten, mit Pickel- haube und langem Mantel auf dem Bahn- steig, auf der Flucht.
Ende der Welt von gestern
So sah das Ende aus. Das Ende des Ers- ten Weltkrieges und der „Welt von ges- tern“ (Stefan Zweig), mit Millionen Toten, Hungersnot, Dolchstoßlegende, Kriegs- schuldfrage, dem Ende der Hohenzollern- monarchie und der Gründung der ersten deutschen Republik.
meteor mit dem Kaiser an Bord geht über die Startlinie ins Regattafeld, 1907
Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1902
„Hineingeschlittert“, so der britische Premierminister David Lloyd George, sei man in diesen Krieg, Majestäten wie Politiker auf allen Seiten, ausgerutscht auf dem glatten Parkett der großen Weltpolitik. „Schlafwandler“ seien sie allesamt gewesen, so der australische
Historiker Christopher Clark, und die tödlichen Revolverschüsse des 19-jäh- rigen bosnischen Serben Gavrilo Prin- cip am 28. Juni 1914 in Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger Franz Fer- dinand und dessen Frau der Beginn eines fatalen Prozesses, in dessen Ver- lauf die europäischen Mächte durch ein Geflecht internationaler Abhän- gigkeiten und Verwicklungen geradezu magisch in den Abgrund des Krieges gezogen worden seien.
Griff nach der Weltmacht
Der deutsche Historiker Fritz Fischer dagegen hatte bereits Jahrzehnte zuvor dies Schlittern und Taumeln in den Krieg als eher zielgerichteten, absichtsvollen Weg des Deutschen Reiches mit seinem Kaiser an der Spitze als „Griff nach der Weltmacht“, so der Titel seines Buches von 1961, gedeutet und damit eine hef- tige Kontroverse ausgelöst. Deutschland habe den österreichisch-serbischen Krieg nicht nur gewollt, sondern die K.-u.-k.- Monarchie regelrecht dazu gedrängt. Dazu habe man dem Verbündeten per „Blankoscheck“ versichert, ihm bei einem Feldzug gegen das national aufbegeh- rende Serbien zur Seite zu stehen und es dabei auch auf einen Konflikt mit Russ- land und Frankreich ankommen zu las- sen – als Hebel zur Erringung deutscher Hegemonie mindestens auf dem euro- päischen Kontinent und mit dem Attentat als Gelegenheit der „Inscenierung dieses Krieges, der Deutschland Generationen prächtiger Menschen kostet und es für 100 Jahre zurückwirft“, so der Chef der Hapag, Albert Ballin, 1918 an den Staats- sekretär des Auswärtigen Amtes, Gott- lieb von Jagow.
Geschichte
Kaiserdämmerung
Vor 110 Jahren begann der Erste Weltkrieg
Frank Ganseuer
Gegen 6:30 Uhr am 10. November 1918 erscheint ein Mann im Automobil an der belgisch-niederländischen Grenze, am kleinen Zollamt „Withuis“ in der Nähe des Grenzdorfs Eijsden. Es ist der deutsche Kaiser Wilhelm II., der nach einer Reise von gut 50 km aus dem Hauptquartier des deutschen Heeres im belgischen Spa hier als „einfacher Privatmann“ um Gastaufenthalt bittet.
Leinen los! 7-8/2024 41
Foto: Wikimedia Commons
Foto: Wikimedia Commons


































































































   39   40   41   42   43