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Geschichte
Disziplinar- und Polizeigewalt, Rechts- hilfe, Zivil- und Verwaltungsgerichtsbar- keit, Strafgerichtsbarkeit, soziale Sicher- heit und Fürsorge.
Im Unterschied zum Vertrag von 1957 ver- loren die Stationierungsorte und Militär- objekte der WGT ihre vom Oberkom- mando beanspruchte Exterritorialität mit stillschweigender Duldung durch die DDR-Führung. Beendet war die territori- ale Ausnahmestellung sowjetischer Mili- tär- und Wohnobjekte gegenüber dem Aufenthaltsstaat. Die Organisationspla- nung sah für den Zeitraum 1991 bis 1994 vor, dass pro Jahr 30 % des Personals, der Waffentechnik und Ausrüstung abgezo- gen werden. Die restlichen 10 % sollten 1994 Deutschland verlassen. In Quar- talsplänen wurden Verlauf und Eckpunk- te des Abzuges präzisiert und mit dem Deutschen Verbindungskommando der Bundeswehr abgestimmt. Die Reihenfol- ge des Abzugs der Land- und Luftstreit-
kräfte sollte territorial gesehen in Abhän- gigkeit ihrer Stationierung im Westteil be- ginnen. Daran schloss sich die südliche Region an. Ihr folgte der Norden in Meck- lenburg. Die im zentralen Raum um Ber- lin stationierten Einheiten der WGT ver- ließen als Letzte Deutschland.
Im November 1990 wurde die „Gemisch- te Deutsch-Sowjetische Kommission“ zur Umsetzung des Abzugsvertrages gegrün- det. Ihr oblag die Klärung von strittigen Problemen, u.a. die Bewertung der Im- mobilien WGT, Umweltschäden, Mangel an Wohnraum. Die deutsche Seite vertrat der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Dr. Franz Bertele. Ab Juni 1992 war es Claus Duisberg. Die Kommission unter- gliederte sich in 11 Arbeitsgruppen. Sie tagte etwa dreimal im Jahr. Die Tagun- gen litten zum Teil unter dem zentralis- tischen Führungsstil des Oberkomman- dierenden der WGT. Generaloberst Bur- lakow gewährte seinen Offizieren kaum
den erforderlichen Handlungsspielraum. Erst im Ergebnis des Kohl-Jelzin-Gesprä- ches am 16. Dezember 1992 gelang die Klärung des von russischer Seite thema- tisierten Problems ihrer Immobilienwer- te (Kasernen, Gebäude, Anlagen, Lager usw.). Jelzin nahm die von seinen Truppen verursachten Umweltschäden zur Kennt- nis. Die Kosten ihrer Beseitigung führten zur Übereinkunft einer Null-Lösung: kein Erlös – keine Kosten.
Die Bundesregierung übertrug dem Ver- bindungskommando der Bundeswehr zur WGT die Aufgabe der militärischen Ko- ordination und Unterstützung. Das Kom- mando hatte in Strausberg und dann in Berlin-Oberschöneweide seinen Sitz. Kommandeur war Generalmajor Hartmut Foertsch. Als Chef des Stabes fungierte Oberst Otto Freiherr Grote.
Überraschung im Oberkommando
Grote schilderte die erste Kontaktaufnah- me eines Vertreters der Bundeswehr zur WGT. Nach seinem Dienstantritt in Straus- berg hatte Grote Gelegenheit, das Ober- kommando der WGT am 9. Oktober 1990 in Wünsdorf zu besuchen. In seiner Ak- tentasche verwahrte er die russische Fas- sung des „Aufenthalts- und Abzugsver- trages“. Das Dokument wurde drei Tage später unterzeichnet. Diese Depesche öff- nete ihm im Militärstädtchen Wünsdorf die diplomatischen Türen. Oberst Gro- te wurde von den ersten Stellvertretern des Oberkommandierenden der WGT, den Generalleutnanten Michail N. Kali- nin und Leontij W. Kusnezow empfangen. Der Bundeswehroffizier kam auf die be- vorstehende Unterzeichnung der bilatera- len Vereinbarung zu sprechen. Er „erleb- te, wie beide Generale sich mit ungläubi- gen Staunen über die russische Fassung eines Entwurfs des Aufenthalts- und Ab- zugsvertrages beugten“. Was die sowje- tischen Generäle aus den Händen ihres ehemaligen Gegners zu lesen bekamen, konnten sie kaum glauben. Moskau hat- te sie nicht informiert. Nach ihrer Ansicht entspräche das Abkommen nicht sowje- tischen Interessen. Ihnen waren sichtba- re Zweifel über die Umsetzung des Ab- kommens anzumerken. In der distanzier- ten Haltung zeigte sich das Widerstreben des sowjetischen Militärs, sich von tradi- tionellen militärischen Gewohnheiten zu verabschieden. Viele waren nicht bereit und fähig, aus der Abrüstungspolitik Kon-
Eine erste Ladung von rund 80 modernen Kampfpanzern nimmt das sowjetische Ro-ro-Schiff KomPositor mussorgsKi im Rostocker Überseehafen an Bord – hier ein sowjetischer Soldat auf hochexplosivem Sitz vor seiner Rückreise in die Heimat
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Foto: picture-alliance/ZB/Jürgen Sindermann


































































































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