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Sowjetische U-Jagd-Korvetten im Hafen von Sassnitz
sequenzen für die Stationierung der WGT zu ziehen. Diese Einstellung führte zur Ab- berufung einiger Generäle.
Wechsel im Oberkommando
Am 14. Dezember 1990 löste General- oberst Matwej P. Burlakow Armeegene- ralBorisSnetkowalsOberkommandie- renden der WGT im Hauptquartier Wüns- dorf ab. Burlakow leitete zuvor den Abzug der Südgruppe der sowjetischen Truppen aus Ungarn. Snetkow lehnte demonstrativ den Truppenabzug aus Deutschland ab. Er wollte als 15. Oberkommandierender der sowjetischen Truppen in Deutschland nicht deren „Totengräber“ sein. Gegen- über dem Oberkommandierenden der Streitkräfte des Warschauer Paktes, Ar- meegeneral Pjotr G. Luschew, erwähnte er 1990 „Mit der Rückführung der WGT werde ich mich nicht beschäftigen“. Da- mit stellte er sich gegen das bilaterale Re- gierungsabkommen. Er verweigerte sich dem konstruktiven Dialog mit deutschen Vertretern. So u.a. im ersten Treffen mit dem Befehlshaber des Bundeswehrkom- mando-Ost, Generalleutnant Jörg Schön- bohm, am 25. Oktober 1990.
Snetkow fühlte sich als „oberster Militär- gouverneur“ in der DDR. Unter seinem Oberbefehl nahmen die Anzahl und Schwere von Vorkommnissen, Umwelt- schäden und Disziplinlosigkeit zu. Bri- sant waren Fahnenfluchten von Ange- hörigen der sowjetischen Streitkräfte. Die spektakulärste Flucht ereignete sich am 29. November 1990. Regimentskom- mandeur Oberstleutnant Michael Koles- nikow und Hauptmann Genadi Mojsejen- ko desertierten unter Mitnahme von ge- heimen Panzergranaten in den Westteil der Bundesrepublik. Beide dienten in der 27. Garde-Mot.-Schützendivision (Halle). Die panzerbrechende Munition vom Typ
KOBra und einer Fla-Rakete Typ tungus- Ka gelangten in die Hände der Nato. Die sowjetische Militärführung stempelte den Oberstleutnant als Verräter und „Deser- teur Nr. 1“ ab. Diesen gravierenden Vorfall überstand Snetkow, sein Leiter der Poli- tischen Abteilung, Generaloberst Alexej Kolinitschenko, und zwei weitere Gene- rälenicht.Hinzukam,dassderVierster- ne-General illegale Verkäufe von Waf- fen aus WGT-Beständen Ende Novem- ber 1990 als „Lüge der deutschen Pres- se“ leugnete.
Vier Sunden vor Anbruch des Jahres 1991 ließ Burlakow den Organisationsplan des Abzuges der WGT beim Bundeswehrkom- mando-Ost hinterlegen. Ohne diesen Plan wären keine deutsche Milliarden geflossen. Fünf Armeen, bestehend aus 20 Divisio- nen der Landstreitkräfte und fünf Flieger- divisionen der 16. Luftarmee mit insgesamt 546.000 Soldaten und Familienangehöri- gen, mussten Deutschland mit Militärge- rät bis Ende 1994 verlassen. Dazu gehörten u.a. 4.288 Panzer, 11.500 gepanzerte Fahr- zeuge, 3.716 Artilleriegeschütze, 106.094 Fahrzeuge, 691 Kampfflugzeuge und 683 Hubschrauber sowie 2,7 t Ausrüstung. 170 Raketensysteme mit 850 Trägermitteln befanden sich bereits in der Abzugspha- se. Das 45. Panzerregiment der Garnison Nohra (Thüringen) verließ am 23. Febru- ar 1991 als erster Kampfverband Deutsch- land. Bis 18. März 1991 folgte die 207. Mot.- Schützendivision im kompletten Bestand von sechs Regimentern und mehreren Ba- taillonen mit 9.838 Mann und 1.065 Stück Kampfgerät aus der Region Stendal, Gar- delegen, Mahlwinkel und Börgitz.
Offizierkorps
Den Abzug ihrer Streitkräfte aus Deutschland bewerteten die Offiziere unterschiedlich. Ein ehemaliger Offi-
zier der 6. Mot.-Schützenbrigade Ber- lin erwähnte zwei gegensätzliche Auf- fassungen. Ein Teil der sowjetischen Offiziere hatte für die „deutsche Wie- dervereinigung tiefes Verständnis und akzeptierte diese als eine historische Notwendigkeit“. Den daraus abgelei- teten Abzug der alliierten Streitkräfte (Frankreich, Großbritannien, UdSSR, USA) aus Deutschland betrachteten sie als Konsequenz. Andere Offiziere lehnten die deutsche Einheit als Ursa- che für den Abzug mit „stiller Auflösung der WGT“ ab. Ihre „negative Haltung resultierte aus den schwierigen Bedin- gungen des Abzuges, der Eile und unzu- reichenden Finanzierung“ der Operati-
Wappen: Fahrzeugmarkierung der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland
on. Angehörige der sowjetischen Streit- kräfte betrachteten den Fall der inner- deutschen Grenze am 9. November 1989 überwiegend noch nicht als existenzbe- drohend für die WGT. Man befand sich in dem Glauben, dass die DDR ihre Ei- genstaatlichkeit behalten würde und so- mit auch die weitere Truppen-Stationie- rung Bestand hatte.
Geschichte
Leinen los! 10/2020 39
Sammlung Holger Neidel
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