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Geschichte
Frust und Ablehnung
Nahezu frustrierend wirkte unter den Of- fizieren die Erkenntnis, dass die zugewie- senen Standorte in der Heimat nicht für die Aufnahme der Soldaten und ihrer Fa- milien sowie Technik vorbereitet waren. In Vorahnung der Verhältnisse am neu- en Standort hatten Soldaten in Deutsch- land ihren Schützenpanzer im Innern zur Wohn- und Schlafstätte umgebaut. Offi- ziere, die die Militärtransporte in die Hei- mat begleiteten, berichteten, dass die Kampftechnik am Zielort durch unsach- gemäße Entladung, fehlende Wartung, technische Defekte und Diebstahl von Anlageteilen militärisch unbrauchbar wurde. Aussagen von Offizieren belegen, dass die Sowjetunion und die Angehöri- gen ihrer Streitkräfte sich plötzlich als die eigentlichen „Verlierer“ der Deutschen Einheit und europäischen Entspannung fühlten. Sie stellten sich die Frage, ob die Millionen Opfer und Verluste des Zwei- ten Weltkrieges umsonst waren. Sie be-
tion (Perestroika, Demokratisierung) oh- ne praktische Erfahrung in eine Sackgas- se“. „Hauptschuldige am Zerfall der So- wjetunion“ waren nach Burlakow „Michail Gorbatschow und seine Berater, die ei- ne pseudowissenschaftliche Perestroika- politik betrieben. Bei aller Ausstrahlungs- kraft seiner Außenpolitik, die Innenpoli- tik brachte von Anfang an Unheil über un- ser Land.“
Abzug aus Sassnitz
Unabhängig vom Abzug der Land- und Luftstreitkräfte der WGT verließen am 15. Juli 1991 die letzten Schiffe der So- wjetischen Marine, zwei U-Jagd-Kor- vetten der POti- und Pyta-Klasse den Marinehafen Sassnitz. Nach 46 Jahren endete die Stationierung sowjetischer Marineschiffe in Deutschland und des Marine-Stabes in der Garnison Sassnitz. Am Zeremoniell zur Verabschiedung der Schiffe der Baltischen Flotte nahm der Kommandeur des Marinekommandos
und bilateraler Verständigung sei von großer Bedeutung.“ Den Marinesolda- ten war Sassnitz mit der Insel Rügen zur zweiten Heimat geworden. Nun plag- te sie die Ungewissheit, wie es in der Sowjetunion weiter gehen soll. Kapitänleutnant Michael Sawschentko, Kommandant einer U-Jagd-Korvette, lebte mit seiner Familie sechs Jahre auf der Insel Rügen. Der 30-jährige Kaukasier trennte sich von seiner zweiten Heimat nur schwer. Sein Sohn und seine Tochter erblickten im Bergener Kreiskrankenhaus das Licht der Welt. Jetzt hatte er zwei Rü- ganer in seiner Familie. „Er habe sich hier sehr wohl gefühlt“, entgegnete er einem Journalisten. Bootsmann Sergej Parchin (34) erklärte „Meine Familie und ich ver- lassen Sassnitz nach fünf Jahren mit bes- ten Eindrücken.“ Obermatrose Juri Sub- ku erwähnte „für ihn war die Verbindung zu deutschen Seeleuten sehr wichtig. Be- eindruckt haben ihn die Arbeits- und Le- bensbedingungen auf deutschen Schif- fen. Die Ausstattung seiner im 22. Dienst- jahr stehenden U-Jagd-Korvette trage eher musealen Charakter.“
Die Besatzungen paradierten unter den Klängen eines Militärmarsches auf der Pier an dem sowjetischen und deutschen Admiral vorbei. Voran weh- te zum letzten Mal die sowjetische Seekriegsflagge in Sassnitz. Nach Ab- spielen der Nationalhymnen hieß es für die U-Jagd-Korvetten „Leinen los und ein!“. Beim Ablegen erklang der russische Militärmarsch „Proschanie Slawjansk“ (Abschied aus Slawjansk). Auf See erhielten die Schiffe militä- risches Geleit durch die Minensuch- und Räumschiffe Bernau (M 2673) und eilenBurg (M 2674) der KOndOr II-Klasse der Deutschen Marine sowie zwei Mari- nehubschrauber des Typs Mi-8. In Kielli- nie fahrend, bildeten die Schiffe auf See und Helikopter in der Luft Spalier für die sowjetischen Heimkehrer mit Kurs Bal- tijsk. Mit Erreichen der Zwölfmeilen- zone setzten beide Minensucher das Flaggensignal „Gute Fahrt!“. Die sow- jetischen Marineschiffe schossen zum Abschied Salut. Dann entschwanden sie im Kielwasser einer zu Ende gehenden Epoche der Nachkriegsgeschichte. 7
*Ende des Jahres soll im Miles-Verlag das Buch „Do swidanija Germanija. Stationie- rung – Abzug – Hinterlassenschaften so- wjetisch-russischer Truppen in Deutsch- land” erscheinen.
Abzug von sowjetischen Waffen und Gerät über den Hafen in Rostock 1991
fürchteten eine „historische Revision“ des schwer errungenen Sieges. Nicht wenige empfanden den Verlust an mi- litärischer Präsenz als eine neue Bedro- hung ihrer Sicherheit.
Je mehr diese Erkenntnisse im Offiziers- korps der WGT reiften, umso schneller verloren Gorbatschow und sein Außenmi- nister Edward Schewardnadse an Akzep- tanz unter ihren Landsleuten, einschließ- lich dem Militär. Die Aufgabe der militäri- schen Präsenz in Deutschland wurde der Reformpolitik Gorbatschows angelastet. Nach Ansicht von Burlakow geriet in der Sowjetunion die „theoretische Konzep-
Rostock, Flottillenadmiral Otto Ciliax, teil. Auf der Pier hatten sich Angehörige, Ostseeurlauber, Rüganer und Presseleu- te eingefunden. In seiner Rede betonte der stellvertretende Befehlshaber der Baltischen Flotte, Vizeadmiral Anatolij Kornijenko, dass die „sowjetische Ma- rine ihre Aufgaben auf deutschem Ter- ritorium erfüllt habe“. Seine Marinesol- daten nehmen als Freunde mit Wehmut Abschied. Der Admiral erwähnte, dass „das politische Klima in Europa stark von den Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion beeinflusst wird. Das Streben von guter Nachbarschaft
40 Leinen los! 10/2020
Foto: Wikipedia


































































































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