Page 49 - ll_7-8_2020
P. 49
Geschichte
ßeren Dissonanzen überliefert – begann der Alltag.
Das in Kiel eingerichtete Kaiserliche Ka- nalamt regelte die staatlichen Belange, die Interessen der Kaiserlichen Marine nahm ein Marinekommissar wahr. Für die Aufstellung der Kanalgebühren wurden abgestufte Regelungen gefunden. Die Kanallotsen und dann auch spezielle Ka- nalsteurer machten den Verkehr, bei dem es anfangs zahlreiche, wenn auch meis- tens glimpflich verlaufene Havarien und Böschungsberührungen gegeben hatte, nicht nur sicherer, sondern auch zügiger. Allerdings erwies sich der Kanal schon nach wenigen Jahren in seinen Abmes- sungen als zu klein. Das war nicht nur an den Fortschritten der Handelsschifffahrt zu erkennen, sondern auch für die immer größeren und kampfkräftigeren Einhei- ten der Kaiserlichen Marine wurde die
Verbindung zwischen ihren Operations- gebieten in Nord- und Ostsee bald zu flach und zu eng, von den Schleusengrö- ßen gar nicht zu sprechen. Die ab 1903 im Bau befindlichen Linienschiffe der deutschlaNd-Klasse hatten bei 128 m Länge einen Tiefgang von 8,25 m und die 1907 auf Stapel gelegten Großlinienschif- fe der Nassau-Klasse waren schon 146 m lang und gingen 8,80 m tief. Die späte- ren Schlachtkreuzer brachten es sogar auf 9,40 m Tiefgang.
Die Abmessungen des Kanals und der Schleusen mussten angepasst werden, damit sie ihren aus Marinesicht zuge- dachten Zweck erfüllen konnten. Für den daraus gefolgerten notwendigen Kraftakt bewilligte der Reichstag Mittel in Höhe von 242 Mio. Mark, also deut- lich mehr, als der ursprüngliche Bau ge- kostet hatte. Dafür entstand er jedoch in den Jahren 1907 bis 1914 so gut wie neu. 100 Mio. m3 Boden verschiedenster Art mussten ausgehoben werden und dies bei voller Weiterführung des Betriebes. Im Endeffekt wurde der Kanal auf 11 m vertieft sowie an der Sohle auf 44 m und an der Oberfläche auf 103 m verbrei- tert. Eisenbahnbrücken verschwanden, neue Hochbrücken wurden errichtet und Fährverbindungen erneuert. Die neuen Schleusen erhielten gewaltige Kammern von 330 m Länge und 45 m Breite, und im April 1914 nahm die Eisenbahnfähre Ra- de den Betrieb auf. Sie bot Platz für vier Waggons und war die einzige Eisenbahn- fähre über den Kanal. Ansonsten waren die Ausbauarbeiten 1914 weitgehend zu Ende gebracht, Restarbeiten fielen noch bis 1924 an.
Bei Kriegsbeginn 1914 wurde der gesamte Kanalbetrieb dem Chef der Marinestati- on der Ostsee unterstellt und alle relevan- ten Anlagen militärisch gesichert. In den ersten Kriegstagen war der Kanal für jeg- lichen zivilen Verkehr gesperrt. Sehr bald wurde er für deutsche Handelsschiffe aber wieder freigegeben. Die Verlegung von Flotteneinheiten aus der Nord- in die Ostsee und umgekehrt klappte wäh- rend der gesamten Kriegsjahre reibungs- los, wodurch sich die strategische Bedeu- tung dieser Wasserstraße erstmals unter „echten Bedingungen“ bewies.
Nach dem Waffenstillstand im Novem- ber 1918 kam der Kanalverkehr nahezu gänzlich zum Erliegen. Auch in den Mo- naten danach belebte er sich den politi- schen und wirtschaftlichen Umständen geschuldet erst ganz allmählich wieder. Zuerst passierten auffällig oft französi- sche und britische Kriegsschiffe den Ka- nal, dann brachten amerikanische Frach- ter Lebensmittel für die notleidende deutsche Bevölkerung, und schließlich kam auch die internationale Schifffahrt wieder in Gang, gefolgt von der deut- schen, die als Folge der Reparationsfor- derungen der Siegermächte stark dezi- miert worden war. Die in der Reichsmari- ne zusammenfassten Reste der einst stol- zen Kaiserlichen Marine spielten, auch was den Kaiser-Wilhelm-Kanal betraf, kei- ne Rolle mehr.
Der organisatorische Aufbau der Kanal- verwaltung blieb vorerst bestehen. Erst nach und nach änderten sich die Namen und der Zuschnitt einzelner Dienststel- len. Mit einer Verwaltungsreform vom 1. April 1939 wurde das Reichskanalamt in
Historische Postkarte – 10 Jahre Kaiser-Wilhelm-Kanal
Leinen los! 7-8/2020 49
Foto: WSA Kiel