Page 75 - Der Darwinismus als soziale Waffe
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Harun Yahya






                 Wie man aus den Auffassungen zahlreicher Historiker und Forscher, aber auch aus den Schriften und Reden
             Hitlers selbst entnehmen kann, bezog der Nazismus seine Kraft und Stärke aus dem Darwinismus und dessen
             angeblich wissenschaftlichen Argumenten. Damit versuchten Hitler und seine Gefolgsleute ihre eigene psy-
             chopathische Grausamkeit zu rechtfertigen. Schon das vorher existierende kulturelle Umfeld, in dem die Nazi-
             Ideologie gedeihen konnte, trug tiefe Spuren des Darwinismus in sich. Wie wir auf den folgenden Seiten sehen
             werden, hat der im Deutschland der ersten 20. Hälfte des Jahrhunderts dank dem fanatischen Darwinisten Ernst

             Haeckel stets mehr an Einfluss gewinnende Sozialdarwinismus die ganze deutsche Gesellschaft durchtränkt und
             die philosophischen Voraussetzungen geschaffen für den Erfolg der Nazis.

                 Krieg in Nazideutschland und Evolution


                 Dem Sozialdarwinismus zufolge begünstigt der Krieg den Fortschritt einer Gesellschaft, indem er die Starken

             selektiert und die Schwachen eliminiert. In der Logik des Sozialdarwinismus ist Krieg eine positive Kraft, weil er
             nicht nur schwache Rassen aussondert, sondern auch die Schwachen innerhalb der “Herrenrasse“ selbst. Deshalb
             spricht sich der Sozialdarwinismus stets für den Krieg aus. Auch den Nazis ging es um den Zusammenhang von
             sozialdarwinistischer Logik und Militarismus. Bei Robert Clark findet sich in seinem Buch Darwin: Before and
             After folgende Information über Hitler:

                 “Hitlers Haltung gegenüber dem Völkerbund und zur Frage von Krieg und Frieden basierte auf denselben
                 Prinzipien. “Ein Weltgerichtshof ... wäre ein Witz ... die ganze Welt der Natur ist ein einziger Kampfschauplatz
                 zwischen Stärke und Schwäche - ein immerwährender Sieg der Starken über die Schwachen. Wenn dem nicht so
                 wäre, gäbe es in der ganzen Natur nur noch Verfall. Staaten, die dem nicht Rechnung tragen, würden diesem
                 Verfall geweiht sein. Wer leben will, muss kämpfen. Wer nicht kämpfen will in einer Welt, in der Kampf ein Gesetz
                 des Lebens ist, hat nicht das Recht zu leben. Anders darüber zu denken, wäre eine Beleidigung der Natur.“       99

                 Gestützt auf den Sozialdarwinismus, wuchs in Europa die Kriegshysterie mehr und mehr an. Die darwin-
             schen Begriffe wirkten dabei wie ein Katalysator, der diesen Trend verstärkte und im gesellschaftlichen
             Bewusstsein verankerte. Erstmals verschmolzen Rassismus und Kriegslüsternheit, weil es eine angeblich wis-
             senschaftliche Begründung dafür gab, die der Gesellschaft als unabweisbare Notwendigkeit präsentiert werden
             konnte. In den Schriften von Dr. Albert Edward Wiggam, einem evolutionistischen Wissenschaftler der Nazizeit,

             spiegelt sich eine der geistigen Verirrungen wider, die man in der damaligen deutschen Geisteswelt so häufig
             antraf:

                 “Vor langer Zeit verfügte der Mensch über kaum mehr Gehirnzellen als sein sogenannter anthropoider Vetter, der
                 Affe. Durch Stoßen, Beißen, Kämpfen und Feinde überlisten und durch die Tatsache, dass es andere mit weniger
                 Verstand und Stärke gab, um das Gleiche zu tun, wuchs das menschliche Gehirn immens an, und der Mensch
                 wurde nicht nur größer, sondern klüger und aktiver ...“   100
                 Die Schlussfolgerung der Nazis aus dieser imaginären Evolutionsgeschichte, in Wirklichkeit das Produkt

             kranker Gehirne, war folgende: Krieg ist langfristig gesehen ein positiver Faktor, weil der Fortschritt der
             Menschheit ohne tödliche Konflikte nicht zu bewerkstelligen ist. Wie Hitler und Rosenberg behaupteten auch die
             anderen Nazi-Ideologen, die zeitgenössischen Zivilisationen seien in erster Linie durch ständige Kriege ent-
             standen. In dieser irrigen Auffassung wurden sie durch zahlreiche damalige Wissenschaftler bestärkt.
                 Der sattsam als Darwinist bekannte Berliner Universitätsprofessor Ernst Haeckel zum Beispiel pries den an-
             tiken militaristischen Staat Sparta, weil die Spartaner, ein angeblich auserwähltes Volk, so erfolgreich und den an-
             deren griechischen Stadtstaaten überlegen waren. Er behauptete, dass durch das vorsätzliche Töten ihrer Kinder,

             außer den “absolut Gesunden und Lebenskräftigen“, die Spartaner ständig in voller Kraft und Blüte standen.              101
             Haeckel hielt derartige Praktiken für durchaus gerechtfertigt. Seiner Meinung nach sollte Deutschland dem spar-
             tanischen Vorbild folgen, weil die Tötung körperlich deformierter und kränklicher Kinder “eine vorteilhafte
             Praxis sowohl für die getöteten Kinder als auch für die Gesellschaft“ sei. Die Kenntnis der “Empfehlungen“
             Haeckels ist wichtig, um die Brüchigkeit des gesamten darwinschen Gedankengebäudes adäquat einschätzen zu
             können, innerhalb dessen Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen und der Verpflichtung zu ihrem
             Schutz als bloß “traditionelles Dogma“ und als Verstoß gegen die wissenschaftliche Wahrheit gilt.                 102  Kein
             vernünftiger Mensch würde solchen Unsinn für bare Münze nehmen, aber bedeutende Deutsche glaubten fest
             daran.






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