Page 570 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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nicht geradezu nackt davonliefe? Dann wird ihn aber immer noch das
                abgestutzte Ohr verrathen. Auch ist keine Gefahr vorhanden, daß sie eine
                Verschwörung gegen den Staat verabreden, denn es wäre aussichtslos,

                auf eine solche zu hoffen, da dazu die Sklaven vieler Landstriche in
                Bewegung gesetzt und angeworben werden müßten, die von der
                Möglichst einer Verschwörung so weit entfernt sind, daß sie ja nicht
                einmal zusammenkommen, mit einander reden oder sich gegenseitig
                begrüßen dürfen. Und wie sollten sie glauben, sich einander anvertrauen
                zu dürfen, da sie wissen, daß das Verschweigen einer Heimlichkeit
                gefahrdrohend, das Verrathen derselben ihnen von größtem Nutzen ist?

                Andererseits ist keiner von ihnen der Hoffnung gänzlich bar, durch
                Gehorsam, geduldiges Ausharren und dadurch, daß sie für die Zukunft
                eine gebesserte Lebensführung erwarten lassen, sich die Möglichkeit
                offen zu halten, dereinst die Freiheit wieder zu erlangen. Da kein Jahr
                vergeht, daß nicht Dieser und Jener in den vorigen Stand eingesetzt wird,
                indem ihr geduldiges Abwarten ihnen zur vortheilhaften Empfehlung

                gereichte. –
                     Als ich so gesprochen und hinzugesetzt hatte, ich sähe keinen Grund
                ein, warum es nicht auch in England so gehalten werden könne, und
                zwar mit viel besserem Erfolge, als jene Art der Justizpflege, die jener
                Rechtsgelehrte so hoch gepriesen hatte, versetzte dieser, der
                Rechtsgelehrte nämlich, ein derartiges Verfahren könne in England nie
                eingeführt werden, ohne den Staat an den Rand des Verderbens zu

                bringen. Und dazu bewegte er das Haupt hin und her, rümpfte die Lippen
                und dann schwieg er.
                     Und Alle, die zugegen waren, traten in seine Fußstapfen, d.h. seiner
                Meinung bei.«
                     Da sagte der Kardinal: »Es wäre wohl schwer zu sagen, ob dieses
                System bei uns eingefüllt werden könnte, oder nicht, ohne einen Versuch

                damit gemacht zu haben. Wenn aber ein Todesurtheil gesprochen ist,
                könnte der Fürst Aufschub desselben gebieten und diese Sitte könnte
                erprobt werden, nachdem die Privilegien der Asyle aufgehoben worden,
                dann aber, wenn sich die Sache durch den Erfolg als vortheilhaft
                herausstellt, wäre es richtig, sie einzuführen, im andern Falle möge die
                Todesstrafe an denen, die vorher zu ihr verurtheilt worden, vollzogen
                werden; darin liegt nichts, was mehr oder weniger ungerecht wäre, als

                wenn der Vollzug sofort erfolgt, und daraus erwächst in der Zwischenzeit
                nicht die geringste Gefahr. Es scheint mir auch, daß gegen die
                Landstreicher auf dieselbe Weise recht gut vorgegangen werden könnte,







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