Page 27 - Mariazell 2016
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"Weg der Barmherzigkeit"
Nach dem Kranken sehen.
Ein Lehrer erzählte mir, dass er ein halbes Jahr krank war. Von seiner Schule hat
ihn niemand besucht, weder sein Chef noch die Kollegen. Das hat ihn sehr
verletzt. Er hat sich für die Schule sehr stark eingesetzt. Daher wurde er krank.
Doch niemand hat ihn gewürdigt. Niemand hat nach ihm gesehen. Niemand
hat sich dafür interessiert, wie es ihm wirklich geht. Oft ist es Unsicherheit und
Hilflosigkeit. In einer Firma war der Abteilungsleiter im Krankenhaus. Auch da
hat sich niemand getraut, ihn zu besuchen. Alle fragten die Sekretärin, wie es
dem Kranken ginge. Aber keiner hatte den Mut, ihn selber anzurufen.
Was diese sonst so starken Männer abgehalten hat, ihren kranken Kollegen zu
besuchen, kann ich nicht sagen. Ich kann nur vermuten. Vielleicht war es die
Verunsicherung durch seine Krankheit. Sie würden ja dadurch daran erinnert,
dass sie auch krank werden könnten. Vielleicht war es auch die Unsicherheit,
wie sie dem Kollegen, den sie sonst immer als stark erlebt haben, in seiner
Krankheit begegnen sollen. Vielleicht genierten sie sich, dem Kranken und
Schwachen zu begegnen. Alle bisherigen Formen der Kommunikation würden
da nicht mehr stimmen. Das Pochen auf die Erfolge wäre deplatziert.
Gott ist beim Kranken.
Jesus sagt, dass wir in jedem Kranken ihn selbst besuchen. Jesus radikalisiert
hier eine Einsicht, die schon die jüdische Spiritualität prägt. Es gibt in der
jüdischen Tradition eine Anweisung beim Krankenbesuch: „Wenn man einen
Kranken besucht, setze man sich nicht auf sein Bett. Warum? Weil dort die
Gegenwart Gottes weilt, wie die Schrift sagt: Der Herr stützt ihn auf dem Lager
seiner Krankheit.“ Die Alten waren überzeugt, dass wir im Kranken nicht nur
dem begegnen, der unser Mitleid erregt, sondern auch dem, der eine kostbare
Perle in sich birgt, der uns etwas zu schenken hat. Den Kranken besuchen
bedeutet, ihn mit Augen des Glaubens anzuschauen. Dann werde ich vom
Besuch als Beschenkter zurückgehen. Manchmal sehe ich ein Leuchten in den
Augen eines Sterbenskranken. Er ist durchlässig geworden für Christus. Oder
Podersdorfer Wallfahrt 2016 Seite 22