Page 26 - Mariazell 2016
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"Weg der Barmherzigkeit"
2. TagMittwoch MORGENLOB
Kranke besuchen
Wenn ein Verwandter im Krankenhaus liegt, besuchen wir ihn
selbstverständlich. Aber ist es wirklich immer ein Besuch? Besuchen kommt im
Deutschen von suchen. Ich suche intensiv nach dem andern. Ich möchte
heraussuchen, wo er steht. Besuchen meint also ein Interesse am andern
haben. Ich mache mich auf die Suche, um ihn wirklich zu finden. Im
Griechischen (episkeptomai) und Lateinischen (visitare) liegt der Akzent auf
dem Sehen, genau hinsehen, betrachten, überlegen.
Wie geht es wirklich?
Wenn ich jemanden besuche, dann schaue ich ihn mir genau an. Ich
betrachte ihn nicht nur äußerlich, sondern ich versuche, in ihn hinein zu
schauen, mich in ihn hinein zu meditieren. Ich frage mich, was ihn bewegt, wie
es ihm wirklich geht. Ich habe Interesse an ihm. Ich schaue, um die Wahrheit
zu sehen. Viele Besucher wollen gar nicht sehen, wie es dem andern wirklich
geht. Sie haben Angst, seine Wahrheit ins Auge zu nehmen. Denn dann
müssten sie ja auch die eigene Wahrheit anschauen.
Bei vielen Besuchen hat man den Eindruck, dass die Besucher nicht wirklich
hören wollen, wie es dem Kranken geht. Vor allem wenn er schwer krank ist
und in Todesgefahr schwebt, möchten viele seine Andeutungen, dass es ernst
um ihn steht, sofort zudecken mit den Beschwichtigungen, dass alles gut
werden wird, dass der Kranke schon bald aus dem Krankenhaus entlassen und
wieder ganz gesund werden wird. Der Kranke weiß genau, dass das nicht
stimmt. Aber auch er hat oft Angst, seine Angehörigen zu verunsichern. Er
möchte sie nicht belasten mit seiner Krankengeschichte und mit seiner Angst
vor dem Tod.
Podersdorfer Wallfahrt 2016 Seite 21