Page 27 - engelthaler-rundschau-34-2020
P. 27

GESTALTUNG




                  VON MANN UND FRAU






                            DIE ROLLE DES GESCHLECHTS


                                     IN DER BILDSPRACHE






           Kunstwerke  geben  den  Betrach­  definierten  und  sich  auflösenden   liegend  anzunehmen,  dass  sich  die
           ter*innen  einen  Einblick  in  das  In­  Formen. Der Fokus ihrer Bilder liegt   traditionell  angenommenen  Unter­
           nenleben  der  Künstler*innen,  ihrer   auf  der  Verdichtung  der  Linien  und   schiede der Geschlechter in der Bild­
           Umwelt und ihren Blick auf die Welt.   Formen, welche sich durch die Inten­  sprache  zeigen.  Es  könnte  davon
           Müsste  es  dann  nicht  auch  möglich   sivierung der Farben hervorhebt und   ausgegangen werden, dass sich die­
           sein, aus ihren Bildern Rückschlüsse   dezentral im Bild positioniert ist.   se  bei  einer  Frau  durch  eine  ver­
           auf  das  Geschlecht  der  Kunstschaf­                              meintlich  weibliche  Bildsprache  ar­
           fenden zu ziehen?                 Das kreative Handeln wird vorrangig   chetypisch  nach  dem  Venus­Prinzip
                                             von unbewussten Prozessen geleitet,   zeigen  könnte,  wie  beispielsweise
           In  der  Kunsttherapie  haben  Men­  weshalb die Bildsprache automatisch   eine  runde  Form,  freundliche,  helle
           schen die Möglichkeit, kreativ tätig zu   wie ein Fingerabdruck immer wieder   Farben, filigrane Zartheit. Als männ­
           werden. Sie können Bilder malen und   sichtbar  wird  und  Rückschlüsse  auf   lich  könnte  demnach  eine  Bildspra­
           Skulpturen  gestalten.  Vorerfahrun­  das  Wesen  des  Menschen  gezogen   che  nach  dem  Mars­Prinzip  mit
           gen,  Können  und  Talent  sind  dazu   werden können.              harten, geraden Formen, aktiven, di­
           nicht  vonnöten  und  auch  nicht  rele­                            rektem  Ausdruck  mit  harten  Kon­
           vant. Faszinierend ist zu beobachten,   Hinsichtlich der Gestaltung von Män­  trasten sein.
           dass  jeder  einzelne  Mensch  einen     nern und Frauen wäre es nun nahe­
           eigenen,  individuellen  Ausdruck                                      Versucht man diese theoretische
           in seinen Bildern und Skulpturen                                       Überlegung  in  der  Praxis  umzu­
           hat.  Schon  nach  einer  kleinen                                      setzen,  stellt  man  schnell  fest,
           Werkserie  lassen  sich  wieder­                                       dass diese Hypothese nicht belegt
           kehrende Formen, Farben, Strich ­                                      werden  kann.  So  sind  in  Kunst­
           führungen, Atmosphären oder ein                                        werken  in  der  Regel  Elemente
           ähnlicher  Bildaufbau  erkennen.                                       beider  Pole  zu  finden.  Es  lässt
           Diese  gemeinsamen  Elemente                                           sich kein eindeutiger Zusammen­
           bilden  die  „Handschrift“  des                                        hang  zwischen  dem  Geschlecht
           Kunst schaffenden. Diese ganz ei­                                      des  Kunstschaffenden  und  der
           gene Bildsprache steht unabhän­                                        Bildsprache  erkennen.  Vielmehr
           gig  vom  Motiv  oder  Thema  der                                      zeigt  sich,  dass  die  individuelle
           Werke.                                                                 Bildsprache und so auch das We­
                                                                                  sen, die Seele oder der Geist ei­
           In den Bildern von Aylin Yilmazel                                      nes jeden Menschen, Anteile bei­
           ist  zum  Beispiel  die  wiederkeh­                                    der  Geschlechter  hat.  Dieses
           rende  Form  eines  Netzmusters                                        Bewusstsein  sollte  aktiv  in  den
           zu erkennen. Ebenfalls auffallend                                      Alltag integriert werden, um sich
           sind  die  Hell­Dunkel­Kontraste                                       und  andere  ganzheitlich  wahr­
           und die Ambivalenz zwischen klar                                       und annehmen zu können.




 26  2020 / Ausgabe 34  2020 / Ausgabe 34                              Autorin: Kimberly Banschbach, Kunsttherapeutin MA  27
   22   23   24   25   26   27   28