Page 34 - ARTEMIS_Nr.9 (Weihnachten 2021)
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„Heut’  nit,  am  heiligen  Abend  spielt  kein  Mensch  Karten!  Laß  mir  die  Freud’  und
               plauder’ mit mir!“
                     Daraufhin schwiegen beide - lange. Sie sahen vor sich hin, Georg Bruggraber in seine
               Zeitung, Mutter Bruggraber in ihr Buch, aber keines von beiden las. Es war eigen still in der
               Stube, dass die Hängeuhr laut wurde und das Knistern der Schneeflocken, die draußen an
               das Fenster sich hefteten, schier zu vernehmen war. Und zwischen dem seltsamen Ticken
               und  dem  leisen  Knistern  wanderten  die  Gedanken  der  zwei  Menschen,  die  ein  Nest  voll
               Kinder  großgezogen  und  in  die  Fremde  fliegen  ließen,  die  durch  mehr  als  40  Jahre  die
               Kinder  des  ganzen  Dorfes  um  sich  gehabt  und  zu  fühlenden  und  denkenden  Menschen
               gemacht und nun mit einem Male alt waren und allein und nun Zeit fanden, ihren Gedanken
               „Audienz“ zu geben und sich mit ihnen zu unterhalten. - Lautlos und still wanderten sie, weit
               zurück, von Jahr zu Jahr, von Weihnacht zu Weihnacht und ihre Augen wurden feucht und
               leuchteten und eines wusste vom anderen, wo es anhielt auf dem weiten Wege und rastete.
                     Sie  sahen  den  Christbaum,  wie  er  Jahr  um  Jahr  brannte  in  dem  Nebenzimmer,  sie
               sahen ihre Schar Kinder herum mit glücklichen Augen. Noch hörten sie ihre hellen Stimmen
               das ewigschöne Lied vom Tannenbaum singen, fernher, wie aus dem Land des Traumes. -

                     „Geh’  Vater“,  unterbrach  Mutter  Bruggraber  mit  einem  Male  das  Schweigen,  „Geh’,
               spiel’ das Lied vom Tannenbaum!“
                     „Aber, Mutter, wir haben doch kein Klavier mehr!“
                     „Na so etwas! Jetzt habe ich geglaubt,  wir sind noch oben in der Schul’! Na, so was!
               Ganz war ich oben! Und Weihnachten war und die Kinder waren da, alle neun und d’Adolf
               auch!“ - - -

                     Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, dass ihr Mann nicht die Träne sehe, die ihr
               leise  über  die  Wange  rieselte.  Dabei  presste  sie  die  Lippen  aufeinander  und  drückte  die
               Zunge an den Gaumen, als ob sie einen harten Bissen verschluckte. Sie konnte ihn nicht
               vergessen und konnte es nicht glauben, dass er unter galizischer Erde liege und nicht mehr
               komme. Sie hatte sie alle gleich lieb, ihre Kinder, aber an ihn band sie etwas Besonderes:
               Das Schicksal hatte ihn härter mitgenommen als die anderen, war grausam mit ihm, hatte
               ihn frieren und hungern lassen unter fremden, habgierigen Menschen. So vermeinte sie, ihm
               mehr  Liebe  zu  schulden  und  ihn  mehr  in  ihr  Herz  zu  schließen  als  die  anderen,  und  Ihr
               Erinnern  verweilte  auch  heute  am  Weihnachtsabende  länger  und  wärmer  bei  ihm,  ihrem
               Adolf, dem seit den großen Schlachten in Galizien so bitter Vermissten. Sie nahm sein Bild
               von  der  Wand  herunter,  stellte  es  vor  sich  hin  auf  den  Tisch  und  sah  es  lange  und
               unverwandt an: „Warst immer ein gutes Kind!“

                     „Er war stiller als die anderen und hat uns nie geärgert!“ fügte der Vater hinzu. „Aber
               der  Georg  war  von  der  gleichen  Art.  Was  hat  doch  der  Bub  gebastelt  und  gehämmert!
               Wieviele Stunden saß er of bei seinen Bausteinen! Oft dachten wir gar nicht mehr an ihn, bis
               ein Stein ihm aus der Hand fiel und uns verriet, dass er auch da sei.“
                     „Und Du selbst wurdest zum Kinde und hast ihnen stundenlang zugesehen, wenn sie
               im Hofe ihre Häuser bauten, Stühle, Tische und Betten zimmerten, Wagen, Göpel und Pflüge
               machten,  wenn  sie  Greisler  spielten  und  Schule!  Oder  wenn  Du  mit  ihnen  sangst  die
               schönen  Lieder  von  Koschat  und  Schubert!  Die  Leni  hat  gar  so  schön  g’sungen!  Jeden
               Abend,  bevor  die  einschlief,  sang  sie  ihre  Lieder,  dass  die  Leute  sommertags  vor  den
               Fenstern stehen blieben und sagten: „Lost’s, die Bruggraber-Leni singt!“

               Stille Weihnacht                                                                     Seite 2
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