Page 14 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 14

2                         Ludwig Lange.

       Scherz  bei  Seite:  ich bin überaus erstaunt gewesen zu  sehen,  in
       welchem Maße meine Ideen, nachdem einer anfänglichen recht gün-
       stigen Aufnahme eine beträchtliche Pause geringerer Beachtung ge-
       folgt  war,  gerade  neuerdings wieder  der Prüfung unterworfen zu
       werden scheinen.  Diese Wahrnehmung    allein  ist es auch gewesen,
       was mich ermuthigt hat,  die verlassene Arbeit wieder aufzunehmen.
          Dass übrigens die Begriffsbildung des Inertialsystems noch keinen
       Eingang in den eisernen Bestand der physikalischen und astronomi-
       schen Compendien gefunden hat, wird denjenigen nicht im geringsten
       Wunder nehmen, der da weiß, dass die Maurer am Bau der Wissen-
       schaft zwar kein Bedenken tragen, mit oft überraschender Schnellig-
       keit kleine, constructiv unwichtige Verzierungen, die ihnen zugereicht
       werden, in das wohlgefügte Ganze einzugliedern, dass aber eine wohl-
       begründete Vorsicht ihnen verbietet, Grundpfeiler,  selbst  solche,
       deren Morschheit allgemein anerkannt ist, vorzeitig durch neue Stützen
       zu ersetzen,  so lange  diese nicht eine jahrzehntelange Prüfung vor
       aller Augen erfolgreich bestanden haben.
          Inwieweit sich die von mir befürworteten neuen Grundpfeiler der
       Bewegungslehre 1) im Widerstreit der Kritiken  als  hinreichend  ge-
       festigt erwiesen haben, um  an  Stelle der alten New ton 'sehen zu
       treten,  dies  ist  die Frage,  die im Folgenden, wenn auch aus dem
       Standpunkte  einer  oratio  pro domo,  so doch möglichst sine ira et
       studio beantwortet werden soll. Dass die New ton 'sehen Grundpfeiler
       der Mechanik, soweit sie das Trägheitsgesetz und den von Newton
       zuerst  in  aller Schärfe aufgestellten Begriffsgegensatz der absoluten
       und relativen Bewegung angehen, in dieser Form nicht haltbar sind,
       wird gegenwärtig nahezu einstimmig von  allen Gelehrten anerkannt,
       welche sich überhaupt die Mühe genommen haben, die Grundfragen
       der Mechanik einer selbständigen Kritik zu unterziehen. Zu meiner
       Zeit waren außer C. Neumann, E. Mach, H. Streintz, J. Thom-
       son 2) und mir selbst kaum irgendwelche Zeugen für jene Thatsache
       zu nennen, und es ist mir und Anderen wiederholt zugestoßen, dass
       man uns über die Berechtigung der ganzen Problemstellung recht wenig
       schmeichelhafte mündliche Urtheile zukommen ließ. Heute ist die Reihe
       der Zeugen nachgerade um eine ganz stattliche Anzahl von Namen
       gewachsen:  ich nenne nur W. Wundt (1886), H. Seeliger (1886,
       Astronomie), A. König (1886, Physik),   S. Günther (1890, mathe-
   9   10   11   12   13   14   15   16   17   18   19