Page 143 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 131

        Es  sind  dies  gesonderte  Gebiete  des Erkennens,  da  die Er-
     forschung der Bewusstseinsinhalte von derjenigen der Substanzen der
     ganzen Art nach verschieden  ist.  Die Bewusstseinsinhalte sind näm-
     lich, weil sie dem erfassenden Denken ihr Dasein verdanken, keine
     kraftbegabte Substanzen.  Sie  sind unfähig, "Wirkungen auszuüben
     und in einer vermeintlichen Wirkungsweise sich zu unterstützen oder
     zu hemmen.   Sie können auch nicht durch eine ihnen innewohnende
     oder an   sie  herantretende Kraft verändert werden.  YeränderHch
     können sie darum nur in dem Sinne heißen, dass von verschiedenen
     Bewusstseinsinhalten, die auf Grund gemeinsamer Bestinmiungen einer
     und derselben Mannigfaltigkeit angehören, der eine den andern ab-
     lösen und  jeder  in  gleicher Weise  als Repräsentant der Mannig-
     faltigkeit  auftreten kann.  Die YeränderHchkeit der Bewusstseins-
     inhalte  findet  somit  ihr Urbild in der Veränderlichkeit der Zahl,
     die  lediglich  in  der Ersetzbarkeit  des  einen Zahlenwerthes durch
     einen anderen,  der nämlichen Zahlenmannigfaltigkeit angehörenden
     besteht. — Aber auch nicht als Wirkungen von Substanzen lassen
     sich die Bewusstseinsinhalte auffassen. Denn der Akt des erfassenden
     Denkens, welcher einen Bewusstseinsinhalt darbietet,  ist kein Akt des
     beziehenden Denkens, und nur in einem solchen kann eine Wii'kung
     vorliegen, die demnach selbst wieder nothwendig substanziell besteht.
        Eben deswegen    sind anderseits  die Substanzen, da  sie im be-
     ziehenden Denken gegeben werden, als das, was sie sind, nicht er-
     fassbar.  Sie existiren nur als Träger von Kräften, durch welche sie
     aufeinander wirken und sich verändern, oder als Träger von Dispo-
     sitionen, auf Grund welcher sie befähigt sind, Entwicklungsprocesse
     zu durchlaufen.
        Den Substanzen, die in wechselnden Zuständen beharren, Wirkungen
     ausüben und empfangen oder ursprünglich vorhandene Anlagen zur
     Entfaltung bringen,  treten  so  die ledighch in aufeinanderfolgenden
     Akten des erfassenden Denkens vorliegenden und als solche zusammen-
     bestehenden Bewusstseinsinhalte gegenüber.
        Die beiden Gebiete unterscheiden sich aber nur durch die Weise
     des Erkennens, während die Gegenstände des Erkennens untrennbar
     zusammengehören.   Denn von den Substanzen lassen    sich  die Be-
     wusstseinsinhalte nur in abstrahirendem Denken, nicht in der Wirk-
     lichkeit  trennen.  Es  ist  ja  mit dem  beziehenden Denken  das
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