Page 145 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bevrusstseinsinhalten. 133
     Denn, indem ein Bewusstseinsinhalt den jeweils erfassbaren Zustand
     einer Substanz offenbart, ist er weder selbst die Substanz noch wird
     er durch dieselbe erzeugt;  er ist vielmehr bloß ein Symbol, das auf
    die Substanz hinweist,  deren Wesen ganz und     gar  auf den Be-
     ziehungen, durch die sie bestimmt wird, beruht.  Diese Symbole ver-
     treten die Substanzen in den Akten des erfassenden Denkens.   Sie
     können darum zwar nicht entbehrt werden, wenn man die Substanzen
     aufzeigen und kennthch machen will;  sie sind jedoch nur ein Hülfs-
     mittel, um auf Grund der in den Akten des beziehenden Denkens
     dargebotenen Erfahrungsthatsachen die Beschaffenheit der Substanzen
     zu erforschen.  Ebenso dienen  die Substanzen  als Kennzeichen für
     das  zu  erwartende Auftreten von Bewusstseinsinhalten.  Sie sind
     unentbehrhch , um in den ihre Veränderungen    begleitenden Akten
     des erfassenden Denkens vorbestimmte und varürbare Successionen
     von Bewusstseinsinhalten zu erhalten und auf diese Weise das Stu-
     dium der Bewusstseinsinhalte auf eine experimentelle Grundlage zu
     stellen.
        Hiernach behaupten   sich die Bewusstseinsinhalte und  die Sub-
     stanzen selbständig nebeneinander, indem  sie einander wechselweise
     entsprechen: es besteht ein Parallelismus zwischen Bewusst-
     seinsinhalt und Substanz.      Die Untersuchung desselben  ist für
     die beiden Wissenschaften von den Bewusstseinsinhalten und von den
     Substanzen ein Bedürfniss, das von jeder, soweit es erforderlich  ist,
     befriedigt werden muss.  Sie beansprucht jedoch überdies eine selb-
     ständige Bedeutung,  so  dass  neben  den  beiden  unterschiedenen
     Forschungsgebieten und im Anschluss an dieselben ein Grenzgebiet
     anzuerkennen  ist,  das den Umfang und   die Gesetzmäßigkeiten in
     dem wechselweisen Entsprechen von Bewusstseinsinhalten und Sub-
     stanzen zu erforschen hat.  Der Parallelismus  selbst  ist aber nicht
     etwa — im Widerspruch mit den obigen Erörterungen —       als eine

     Abart causaler Beziehungen zu erklären, sondern als eine Thatsache
     hinzunehmen,  die darin ihre Erklärung findet, dass das beziehende
     Denken, in dem die Substanzen gegeben werden, und das erfassende
     Denken,  in dem die Bewusstseinsinhalte vorliegen, in der Wirklich-
     keit untrennbar zusammengehören und nur    in der Reflexion unter-
     scheidbar  sind.  Darum  existirt weder  die Welt der Bewusstseins-
     inhalte noch die Welt der Substanzen für sich allein, sondern beide
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