Page 146 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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lOA                     Gottl. Priedr. Lipps.

      zusammen   bilden  in ihrer Verwebung  die eine, wirkliche Welt des
      gegenständlich Bestehenden.
         Wird  in dieser Weise  die Trennung der Erfahrungswissenschaft
      in zwei Gebiete, die in einem Grenzgebiete zusammenhängen, durch
                                           welche den Erfahrungsinhalt
      die Betrachtung der Denkthätigkeit ,
      darbietet, ohne weiteres gefordert, so kann hingegen nicht die Reflexion
      über das Denken, sondern nur   die Feststellung des gegenständlich
      Bestehenden lehren, was für Substanzen und was für Bewusstseins-
      inhalte existiren und in wie weit sie einander entsprechen  : der Inhalt
      und der Umfang eines jeden Forschungsgebietes wird durch die Er-

      fahrung bestimmt.



         Es  ist aber von Interesse, mit dieser erkenntnisstheoretisch be-
      gründeten Trennung   die herkömmliche   Spaltung  der Erfahrungs-
      wissenschaft in Naturwissenschaften und Psychologie zu vergleichen.
      Hierbei ist folgende Bemerkung zu beachten.
         Mit Erwägungen über    die Grundlagen des Erkennens pflegt die
      auf Gegenstände der Erfahrung   gerichtete wissenschaftliche Arbeit
      nicht zu beginnen. Man wird es vielmehr   als die Regel bezeichnen
      dürfen, dass volksthümliche Erkenntnisse den Ausgangspunkt bilden
      und einzelne Probleme,  deren Lösung von allgemeinerem Interesse
      ist  , den Fortgang bestimmen.  Die verschiedenen Zweige der Er-
       fahrungswissenschaft,  die der historischen Entwicklung wissenschaft-
      licher Erkenntniss ihr Dasein und den Grad ihrer Ausbildung ver-
       danken,  werden  darum  die  soeben  abgeleitete  Gliederung  nicht
       unmittelbar hervortreten lassen;  sie werden  ihr aber doch insoweit
       entsprechen müssen, dass jeder, einer bestimmten Auffassung fähige,
       selbständige Zweig entweder  der Lehre von den Substanzen oder
       der Lehre von   den Bewusstseinsinhalten zugewiesen werden kann.
       Denn wäre dies nicht der Fall,  so läge  ein Gemenge von Erkennt-
       nissen vor, das nur unter Verkennung der principiellen Verschieden-
       heit der Bewusstseinsinhalte und der Substanzen als zusammengehörig
       angesehen werden könnte und, da es in Wahrheit nicht zusammen-
       gehört, einer einheitlichen Zusammenfassung widerstreiten müsste.
          Nun gehören   di| N'aturwissenschaften zweifellos der Lehre von
       den Substanzen  an,* aa  jedes Naturobject substanziell besteht und
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