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2 OSTSEE−ZEITUNG BLICK IN DIE ZEIT Mittwoch, 11. Januar 2017
MLEITARTIKELM
Der 15. Juli 20. Juli 27. Juli
Weg Ein Putschversuch aus den Reihen des türki- Die Regierung ver- Mehr als 80 Medien werden
in die schen Militärs scheitert. Die türkische Regie- hängt den Ausnahme- verboten, 16 Fernseh- und
23 Radiostationen sowie 45
zustand. Sie kann nun
rung enthebt in der Folge Tausende Militärs
ihrer Posten. Richter und Staatsanwälte wer- per Dekret regieren. Zeitungen. In einer zweiten
Unfreiheit den abgesetzt. Ihnen werden eine Beteiligung Versammlungs- und Welle Ende August werden
an dem Umsturzversuch und Pressefreiheit können weitere linke und prokurdi-
Von Sebastian Harfst Verbindungen zu dem Erzfeind ausgesetzt oder ein- sche Medien dichtgemacht.
von Präsident Erdogan, dem Pre- geschränkt, Aus-
diger Fethullah Gülen, vorgewor- gangssperren erlas-
EM, WM, Bläh-M: fen. Innerhalb von zwei Tagen sen werden. 7. August
steigt die Zahl der Festnahmen
Der Fußball leidet auf 6000. Erdogan kündigt an, Erdogan stellt die Wieder-
gnadenlos gegen Gülen-Anhän-
einführung der Todesstrafe
ger vorzugehen: Er nennt sie ein in Aussicht. Sie war 2004
„Krebsvirus“. abgeschafft worden.
ianni Infantino wollte die globale Fußballmacht. Da-
für hat er – in der Tradition seiner skandalumwitter-
ten Vorgänger João Havelange und Sepp Blatter –
GVersprechungen gemacht, die er als Fifa-Präsident
jetzt einhalten muss. Deswegen – und weil diese Variante
eine Milliarde Dollar Umsatzplus verspricht – dürfen in gut
neun Jahren 48 Mannschaften zur Endrunde der Weltmeis- Eiszeit
terschaft fahren. Das System Fifa, diese hochverdächtige Me-
lange aus Mauschelei, Moneten und Machtabsicherung,
funktioniert also wie eh und je. Trotz der Skandale der Ver-
gangenheit, trotz der so wohlfeil nach außen dargebotenen
Transparenzbemühungen.
Den Schaden hat: der Fußball.
Denn wozu eine Aufstockung führt, hat die auf 24 Teams in der Türkei
aufgeblähte Vorrunde der Europameisterschaft im vergange-
nen Sommer gezeigt. Oder fand irgendjemand, dass Spiele
wie Russlands 1:2 gegen die Slowakei oder Rumäniens 0:1
gegen Albanien auch in Zukunft das Niveau einer EM be-
stimmen sollten?
Der Umbau in einen repressiven Staat ist in vollem Gange.
Das Parlament berät seit gestern 18 Verfassungsänderungen,
um die Macht von Präsident Erdogan massiv auszubauen. Viele gut
Eine WM lebt vom faszinierenden
Auftritt der Weltbesten, nicht vom ausgebildete Menschen wollen nur noch eines: weg.
verordneten Massenkick der Exoten.
Von Luise Sammann Bulut Kara, Vertriebsmanager bei
einem Mobilfunkunternehmen in
Kicks auf Qualifikationsniveau sind bei einer WM mit 48 sman Koc aus Istanbul Istanbul. „Wir gehen nicht, weil wir
Teilnehmern noch häufiger zu erwarten. Dazu kommen für geht. Nicht für ein paar mehr Geld verdienen wollen“, stellt
irreguläre Absprachen anfällige Dreiergruppen und womög- Tage, nicht für ein Se- er klar, „sondern weil unser Sohn in
lich tief in das Spiel eingreifende Regeländerungen wie ein mester, sondern für im- Freiheit aufwachsen soll. Dies ist
Elfmeterschießen nach regulärer Spielzeit. mer. „In drei Wochen nicht mehr das Istanbul, das wir ken-
So stellt sich mehr und mehr die Frage: Wie lange lassen Ositze ich im Flieger nen.“
sich die Fans das hierzulande noch gefallen? Wie lange tau- nach Amerika“, erklärt der 29-Jäh- Tatsächlich: Die einst für ihre Of-
gen folkloristische Randgeschichten wie die der isländischen rige. „Ohne Rückflugticket!“ fenheit bekannte Bosporusmetro-
„Uh“-Rufer, um vom Kern der Fußballfaszination – nämlich Osman, in Jeans und Holzfäller- pole verändert sich. Am meisten be-
dem Spiel mit dem Ball – abzulenken? hemd, gepflegter Bart zum Pferde- kommen es die Frauen zu spüren.
Es mehren sich im europäischen Kernmarkt die Stimmen, schwanz, sitzt in seinem Großraum- Immer öfter machen Gerüchte von
die eine Implosion des Geschäfts herbeisehnen, damit das atelier in Yeldegermeni, einem Vier- Frauen die Runde, die wegen kurzer
Spiel wieder mehr auf das Wesentliche reduziert werden tel im asiatischen Teil Istanbuls. Vor Röcke oder enger Jacken angepö-
kann. Die Anzeichen dafür, dass der Kommerzgipfel in Euro- allem Künstler und Studenten leben belt werden. Im Sommer ist eine jun-
pa erreicht oder sogar überschritten ist, sind nicht mehr zu ig- in den engen Kopfsteinpflastergas- ge Frau aus einem städtischen Bus
norieren. In England sind die Einschaltquoten trotz eines sen rundherum, Aussteiger, säkula- „In drei Wochen sitze geworfen worden. Ein anderer Pas-
Vertrags, der den Klubs der Premier League Rekordeinnah- re, junge Demokraten, die während ich im Flieger nach sagier hat sich belästigt gefühlt und
men beschert, in der laufenden Saison um 19 Prozent im Ver- der Gezi-Proteste im Jahr 2013 Amerika“: Osman Koc die junge Frau tätlich angegriffen –
gleich zum Vorjahr gesunken. Steht ausgerechnet England, gegen Recep Tayyip Erdogan auf die (links) hat sich für wegen ihrer kurzen Hosen. Bestraft
das Mutterland, das Land, in dem der Fußballboom keine Straße gingen und von einer ande- Emigration entschie- wurde die Frau, nicht der Angreifer.
Grenzen zu kennen schien, vor dem Fußball-Bumm? ren Türkei träumten. den, Krimiautorin Solche Attacken werden nicht von
Noch mag die Melkmaschine Fußball funktionieren. Die „Ausgeträumt!“ Osman Koc Esmahan Aykol (oben) oben angeordnet, aber sie werden
Expansion in die nach Fußball hungernden Märkte in Asien klingt ernüchtert, zündet sich eine zögert noch. von der Polizei geduldet. In vielen
und Afrika hat erst begonnen. Dafür das WM-Teilnehmerfeld selbst gedrehte Zigarette an, pustet FOTOS: IMAGO, SAMMANN Stadtvierteln Istanbuls machen sich
aufzustocken ist aber das falsche Signal. Denn eine WM lebt den Rauch über Kabel und Luftbal- selbst ernannte Sittenwächter breit.
vom faszinierenden Auftritt der Weltbesten, nicht vom ver- lons, Computergehäuse, Ölfarben Sie halten Frauen an, die kein Kopf-
ordneten Massenkick der Fußballexoten. Sinkt das Niveau, und Fantasiespielzeuge. Das kreati- tuch tragen, und sie bedrohen Ju-
leidet der Sport. ve Chaos erinnert an Daniel Düsen- gendliche, die Alkohol trinken. Die
Und speziell der Fußball hat schon genug gelitten unter trieb. Osman lacht. „Meine Arbeit Berichte über Restaurants, denen
der Gier des Fifa- und Funktionärsimperiums. bewegt sich in einem Dreieck aus die Alkohollizenz entzogen wurde,
Kunst, Technik und Design“, erklärt mehren sich.
er. „Manchmal gestalte ich das Aus-
sehen eines Roboters, mal entwicke- Rettung ins Private
MSPEAKERS’ CORNERM le ich sinnlosgeniale Spielzeuge. Dazu kommt der fast schon alltägli-
Nennen Sie mich einen Kreativtech- che Terror. Was einst quirlig und nor-
niker.“ Osmans Mischung funktio- malerweise chaotisch war, wirkt
niert. In seinem Atelier entstanden nach sechs Terroranschlägen in nur
schon Projekte für Unicef und Ken- zwölf Monaten zunehmend bedroh-
tucky Fried Chicken. Zuletzt schuf vor sich kritzelt er die Namen von lich. „Neulich bin ich zwei Stationen
er mit einem Team eine Handpro- Freunden, die in den vergangenen zu früh aus der überfüllten Metro
these im Disney-Design für ein sie- Monaten das Land verlassen haben. ausgestiegen“, erzählt eine junge
benjähriges Mädchen. Als alles vollgeschrieben ist, hört er Frau am Bahnsteig, „weil da dieser
Von Christian Schüle auf, zeigt auf seine eigenen Um- komische Typ war, der sich ständig
Die Klugen verlassen ihr Land zugskartons in der Ecke. „Seit Jah- umsah und eine riesige Sporttasche
Osman Koc und seine Freunde ge- ren erlebt die Türkei eine Katastro- dabeihatte. Man wird ganz para-
Lüge, eine alte Bekannte hören zu einer kleinen, aber erfolg- phe nach der anderen. Noch bevor noid.“ Wer kann, bleibt abends oder
reichen Gruppe von gut ausgebilde-
man sich vom letzten Schock erholt
am Wochenende immer öfter zu
ten Türken, die in den vergangenen hat, kommt schon der nächste. Ich Hause. Wer sich wohl oder übel ins
„Postfaktisch“ ist ein dämliches Wort. Dieses „Wort des Jah- Jahren die Universitäten des Landes will das nicht mehr.“ Gedränge stürzen muss, dem ist
res“ zeugt vom schlechten Geisteszustand des Jahres 2016. verlassen haben. Sie sprechen flie- Offizielle Statistiken zum türki- Der Präsident, der die trotz allgegenwärtiger Polizeiprä-
„Postfaktisch“ hieße ja, dass vor dem Post alles faktisch war. ßend mehrere Fremdsprachen, sind schen Braindrain dieser Tage, dem Nation gespalten hat: senz und Taschenkontrollen das Un-
Was sollte das sein? Etwa faktentreu, durch Fakten bewie- technik- und internetaffin. Dass sie Verlust vor allem der akademischen Recep Tayyip Erdogan. behagen anzusehen.
sen, durch sich selbst bezeugt, wahr und aufrichtig? Hallo? an der sogenannten Schnittstelle Elite, gibt es nicht. Doch ein Blick in FOTO: DPA Zahlreiche Konzerte und Veran-
Heißt das: Bisher herrschte keine Lüge, keine Mogelei, keine zwischen Ost und West aufgewach- die sozialen Netzwerke genügt, um staltungen wurden in den vergan-
Korruption des Intellekts? Was ist mit Bill Clintons fulminan- sen sind, ist ihr Markenzeichen. Zu- zu sehen, wie bestimmend das The- genen Monaten abgesagt. Istanbuls
ter „Ich hatte keinen Sex mit dieser Frau“-Groteske? Was mit mal in Istanbul, wo vor Kurzem noch ma ist. In Foren tauschen sich Nutzer mehr als 100 Shoppingmalls blei-
George W. Bushs Jahrhundertlüge angeblicher Massenver- Kreativität und Innovationslust pul- darüber aus, in welchen Ländern es ben selbst am Wochenende weit-
nichtungswaffen im Irak? Nichts in der Politik basiert je auf sierten. Von hier aus sollten ihre Aussichten auf Arbeits- und Aufent- gehend leer. TV-Serien und Ge-
Fakten, sondern immer auf Konstruktionen. Zu jeder Studie Internet-Start-up-Firmen, ihre Mu- haltsgenehmigungen gibt; Agentu- winnshows brechen dagegen nach
gibt es eine Gegenstudie, jede Vermessung hat ihr Bias, das siklabels und Erfindungen die Welt ren, die sich auf die Jobsuche im jedem weiteren Anschlag Quo-
naturwissenschaftlich korrekte Weltbild ist abgelöst durch erobern. „Made in Istanbul“ schrie- Ausland spezialisiert haben, flo- tenrekorde. „Wir alle ziehen
organisierten Antiintellektualismus. Jetzt haben also auch ben sie voller Stolz auf ihre Produkte rieren. uns immer mehr ins Pri-
Politiker und Präsidenten erkannt, dass es keine allgemein- und Websites. „Schon seit etwa zwei Jah- vate zurück“, bemerkt
gültige Verabredung zur Wahrheit mehr gibt. Und sie wissen, Doch die wachsende Krisenstim- ren bemerken wir einen die Istanbuler Schrift-
dass ihnen die technologischen Möglichkeiten der mega- mung in der Türkei sorgt dafür, dass deutlichen Zuwachs. Seit stellerin Esmahan Ay-
multiplen Vernetzung an allen Korrekturinstanzen vorbei die aus dem Stolz immer öfter Verdros- dem Putschversuch im kol. „Die Angst vor
wirkungsvolle Ansprache einer vor allem an Emotion und senheit wird. Und Angst. Angst vor Sommer 2016 aber ex- dem Terror, aber auch
Entertainment interessierten Gesellschaft gelingt. der wachsenden Islamisierung der plodiert das Geschäft“, die Polarisierung der
Faktisch ratlos sitzen wir auf planiertem Grund und erken- Gesellschaft, vor immer weiteren sagt Ebru Soytürk, die Gesellschaft in Erdo-
nen, dass Wahrheit und Wirklichkeit noch nie verbrüdert wa- Terroranschlägen, vor Repressalien bei Bewerbung und gan-Anhänger
ren. Jetzt beginnt eine neue Erzählung, der Twitter-Trumpis- gegen Regimekritiker. Auf Papierbeschaffung in und -Gegner
mus ist die Vorhut dieser neuen Sprechweise. Das ist eine Demonstrationen traut sich kaum Australien hilft. Viele sorgen dafür,
große Gefahr, und für die intellektuell Mündigen besteht ab noch jemand in Istanbul. Nicht we- ihrer Kunden, sagt sie, dass man sich
jetzt die epochale Herausforderung darin, neue Beweise zu nigen aber ist auch einfach die Ener- seien junge Eltern – abkapselt.“
liefern: dass Wahrheit keine Konstruktion gefälliger Fakten gie ausgegangen. „Diese ständige meist sehr gut ausge- Auch Aykol,
ist, die dieser und jener für seine Zwecke als wahr erachtet. Negativstimmung macht einen ka- bildet und mit guten deren Kriminalro-
putt“, sagt Osman. Gehältern. mane allesamt am
Christian Schüle ist Literat und Essayist in Hamburg. Auf die Schreibtischunterlage Einer von ihnen ist Bosporus spielen,