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F r i e d r i c h S c h i l l e r :
Es schwinden jedes Kummers Falten, /
so lang des Liedes Zauber walten.
Er brachte das Klavier mit unendlicher Geschmeidigkeit zum Singen und spielte
Musik, die nicht nur berauschte, sondern auch berührte. Heinrich Heine, der ihn
hörte, brachte die Faszination, die von dieser Kunst ausging, auf den Punkt: „Er ist
nicht bloß Virtuose, er ist auch Poet, er kann uns die Poesie, die in seiner Seele lebt,
zur Anschauung bringen, er ist Tondichter, und nichts gleicht dem Genuss, den er uns
verschafft, wenn er am Klavier sitzt und improvisiert.“ Auch andere große Geister
waren hingerissen.
Und selbst die gefeierte Schriftstellerin George Sand, der skandalumwitterte
Mittelpunkt des Pariser Kulturlebens, konnte nicht widerstehen und warf ihre Netze
nach dem scheuen Jüngling aus. Sand war höchstwahrscheinlich die einzige Frau, mit
der Chopin zeitlebens eine mehr oder weniger intime Bindung einging. Fast neun
Jahre lebte er mit ihr zusammen. Und das, obwohl die selbstbewusste, oft in
Männerkleidung gewandete Autorin den Komponisten zunächst irritierte, ja sogar
abstieß.
Er war in einem halb bürgerlich-bodenständigen, halb aristokratischen Milieu groß
geworden. Geboren wahrscheinlich am 1. März 1810 (sein Taufschein weist –
fälschlicherweise, wie Experten glauben – den 22. Februar aus) in Zelazowa-Wola bei
Warschau, wuchs Chopin neben drei Schwestern unter der liebevollen, aber strengen
Obhut seines umsichtig-rationalen Vaters Nicholas, eines Gymnasiallehrers, und der
gütigen Mutter Justyna, einer Tochter aus verarmtem Kleinadel, auf. Obgleich sich
das außerordentliche Talent des Knaben früh offenbarte, steuerten die Eltern bewusst
gegen eine Wunderkindkarriere an. Musiker durfte Frédéric zwar werden – aber kein
brotloser Künstlertyp.
Als Chopin in den frühen Morgenstunden des 17. Oktober 1849 im Kreis seiner
engsten Vertrauten stirbt, hinterlässt er der Nachwelt rund 150 Werke. Kaum eines
davon länger als ein paar Minuten, kaum eines nicht für Klavier. Eine Bilanz, die sich
– gemessen an manch anderem großen Tonsetzer – ziemlich einseitig und beinahe
mager ausnimmt. Dennoch nimmt Chopin durch die seltene Gabe, jede noch so
winzige seelische Regung wahrhaftig und mit seismografischer Genauigkeit in fast
überirdisch schöne Musik zu übersetzen, eine Loge im Oberhaus der Musikgeschichte
ein – und, was mindestens genauso viel wiegt: einen festen Platz in den Herzen von
Abermillionen Klavierschülern, Konzertpianisten und Kunstbesessenen in aller Welt.
Wilhelm Gelhaus
Orchideenstraße 7 ~ 49661 Cloppenburg
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