Page 50 - Grete Minde
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fertig und stand gerüstet da: die Kleider ausgestäubt und geglättet und das während des
langen Marsches wirr gewordene Haar wieder geordnet.
Es schlug eben fünf, als sie, das Kind unterm Mantel, aus der Herbergstüre trat. Draußen
im Sande scharrten die Hühner ruhig weiter, und nur der Hahn trat respektvoll beiseit und
krähte dreimal, als sie vorüberging. Ihr Schritt war leicht, leichter als ihr Herz, und wer ihr
ins Auge gesehen hätte, hätte sehen müssen, wie der Ausdruck darin beständig
wechselte. So passierte sie das Tor, auch den Torplatz dahinter, und als sie jenseits
desselben den inneren Bann der Stadt erreicht hatte, war es ihr, als wäre sie gefangen
und könne nicht mehr heraus. Aber sie war nicht im Bann der Stadt, sondern nur im Bann
ihrer selbst. Und nun ging sie die große Mittelstraße hinauf, an dem Rathause vorüber,
hinter dessen durchbrochenen Giebelrosetten der Himmel wieder glühte, so rot und
prächtig wie jenen Abend, wo Valtin sie die Treppe hinunter ins Freie getragen und von
jähem Tod errettet hatte. Errettet? Ach, daß sie damals zerdrückt und zertreten worden
wäre. Nun zertrat sie diese Stunde! Aber sie redete sich zu und schritt weiter in die Stadt
hinein, bis sie dem Mindeschen Hause gegenüber hielt. Es war nichts da, was sie hätte
stören oder überraschen können. In allem derselbe Anblick wie früher. Da waren noch die
Nischen, auf deren Steinplatten sie, lang, lang eh Trud ins Haus kam, mit Valtin gesessen
und geplaudert hatte, und dort oben die Giebelfenster, die jetzt aufstanden, um die Frische
des Abends einzulassen, das waren ihre Fenster. Dahinter hatte sie geträumt, geträumt so
vieles, so Wunderbares. Aber doch nicht das!
In diesem Augenblicke ging drüben die Tür, und ein Knabe, drei- oder vierjährig, lief auf
die Stelle zu, wo Grete stand. Sie sah wohl, wer es war, und wollt ihn bei der Hand
nehmen; aber er riß sich los und huschte bang und ängstlich in eines der Nachbarhäuser
hinein. »So beginnt es«, sagte sie und schritt quer über den Damm und auf das Haus zu,
dessen Tür offengeblieben war. In dem Flure, trotzdem es schon dämmerte, ließ sich alles
deutlich erkennen; an den Wänden hin standen die braunen Schränke, dahinter die
weißen, und nur die Schwalbennester, die links und rechts an dem großen Querbalken
geklebt hatten, waren abgestoßen. Man sah nur noch die Rundung, wo sie vordem
gesessen. Das erschreckte sie mehr als alles andre. »Die Schwalben sind nicht mehr
heimisch hier«, sagte sie, »das Haus ist ungastlich geworden.« Und nun klopfte sie und
trat ein.
Ihr Auge glitt unwillkürlich über die Wände hin, an denen ein paar von den Familienbildern
fehlten, die früher dagewesen waren, auch das ihrer Mutter; aber der große Nußbaumtisch
stand noch am alten Platz, und an der einen Schmalseite des Tisches, den Kopf zurück,
die Füße weit vor, saß Gerdt und las. Es schien ein Aktenstück, dessen Durchsicht ihm in
seiner Ratsherreneigenschaft obliegen mochte. Denn einer von den Mindes saß immer im
Rate der Stadt. Das war so seit hundert Jahren oder mehr.
Grete war an der Schwelle stehengeblieben, und erst als sie wahrnahm, daß Gerdt aufsah
und die wenigen Bogen, die das Aktenstück bildeten, zur Seite legte, sagte sie: »Grüß dich
Gott, Gerdt. Ich bin deine Schwester Grete.«
»Ei, Grete«, sagte der Angeredete, »bist du da! Wir haben uns lange nicht gesehen. Was
machst du? Was führt dich her?«
»Valtin ist tot...«
»Ist er? So!«
»Valtin ist tot, und ich bin allein. Ich hab ihm auf seinem Sterbebette versprechen müssen,
euch um Verzeihung zu bitten. Und da bin ich nun und tu's und bitte dich um eine
Heimstatt und um einen Platz an deinem Herd. Ich bin müde des Umherfahrens und will
still und ruhig werden. Ganz still. Und ich will euch dienen; das soll meine Buße sein.« Und
sie warf sich, als sie so gesprochen, mit einem heftigen Entschlusse vor ihm nieder, mehr