Page 48 - Grete Minde
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von Zenobia. Dann wickelte sie das Kind, das diese bis dahin gewartet hatte, in den
Kragen ihres Mantels und schritt aus der Stadt hinaus, auf die große Straße zu, die von
Arendsee nach Tangermünde führte. Hielt sie sich zu, das waren der Wirtin letzte Worte
gewesen, so mußte sie gegen die vierte Stund an Ort und Stelle sein.
Der Weg ging anfänglich über Wiesen. Es war schon alles herbstlich; der rote Ampfer, der
sonst in breiten Streifen an dieser Stelle blühte, stand längst in Samen, und die Vögel
sangen nicht mehr; aber der Himmel wölbte sich blau, und die Sommerfäden zogen, und
mitunter war es ihr, als vergäße sie alles Leids, das sie drückte. Ein tiefer Frieden lag über
der Natur. »Ach, stille Tage!« sagte sie leise vor sich hin.
Nach den Wiesen kam Wald. Junge Tannen wechselten mit alten Eichen, und überall da,
wo diese standen, war eine kräftigere Luft, die Grete begierig einsog. Denn es war immer
schwüler geworden, und die Sonne brannte.
Mittag mochte heran sein, als sie Rast machte, weniger um ihret- als um des Kindes
willen. Und sie gab ihm zu trinken. Das war dicht am Rande des Waldes, wo zwischen
anderem Laubholz auch ein paar alte Kastanien ihre Zweige weit vorstreckten. Die Straße
verbreiterte sich hier, auf eine kurze Strecke hin, und schuf einen sichelförmigen Platz, an
dessen zurückgebogenster Stelle halbgeschälte Birkenstämme lagen, hinter denen wieder
ein Quell aus Moos und Stein hervorplätscherte. Hier saß sie jetzt, und um sie her lagen
abgefallene Kastanien, einzelne noch in ihren Stachelschalen, die meisten aber aus ihrer
Hülle heraus und braun und glänzend. Und sie bückte sich, um einige von ihnen
aufzuheben. Und als sie so tat und ihrer immer mehr in ihren Schoß sammelte, da sah sie
sich wieder auf ihres Vaters Grab und Valtin neben sich, und sie hing ihm die Kette um den
Hals und nannt ihn ihren Ritter. War es doch, als ob jede Stunde dieses Tages
Erinnerungen in ihr wecken sollte, süß und schmerzlich zugleich. »Alles dahin«, sagte sie.
Und sie stand auf und schüttete die Kastanien wieder in das Gras zu ihren Füßen.
Sie hing ihren Erinnerungen noch nach, als sie das Klirren einer Kummetkette hörte und
gleich darauf eines Gefährtes ansichtig wurde, das, von derselben Seite her, von der auch
sie gekommen, um die Waldecke bog. Es war eine Schleife mit zwei kleinen Pferden
davor, und ein Bauer vorn auf dem Häckselsack. Auch hinter ihm lagen Säcke,
mutmaßlich Korn, das er zu Markt oder in die Mühle fuhr. Grete trat an ihn heran und frug,
ob er sie mitnehmen wolle. »Eine kleine Strecke nur!«
»Dat will ick jiern. Stejg man upp, Deern.«
Und Grete tat's und setzte sich neben ihn, und sie fuhren still in den Wald hinein. Endlich
sagte der Bauer: »Kümmst vun Arendsee?«
»Ja«, sagte Grete.
»Denn wihrst ook in 't Kloster? Jott, de oll Domina! Fiefunneijentig. Na, lang kann't joa nich
mihr woahren. Und denn kümmt uns' Ils ran. De wahrd et.«
»Kennt Ihr sie?«
»I, wat wihr ick se nich kenn'? Ick bin joa vun Arnsdörp, wo se bührtig is. Un wat mien
Voaders-Schwester is, de wihr joa ehr Amm. Un achters hett se se uppäppelt. Un de seggt
ümmer: ›Ils is de best! Un so groot se is, so good is se. Un doaför wahrd se ook Domina.‹«
Und danach schwiegen sie wieder, und nichts als ein paar blaue Fliegen summten um sie
her, und die Schleife malte weiter durch den Sand. Nur wenn dann und wann eine festere
Stelle kam, wo Moos über den Weg gewachsen war oder wo viel Kiefernadeln lagen, über
die die Fuhre glatter hingleiten konnte, gab der Bauer einen Schlag mit seiner Leine und
ließ die mageren Braunen etwas schneller gehn. Und man hörte dann sein Hü und Hott
und das Klappern der Kette.