Page 45 - Grete Minde
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Und das Mädchen, ohne weiter eine Frage zu tun, trat in den Flur zurück, um ihr den Weg
            frei zu machen, und wies auf eine Tür zur Linken. »Da.«
            Und Grete öffnete.

            Es war ein hohes, gotisches, auf einem einzigen Mittelpfeiler ruhendes Zimmer, drin es
            schwerhielt, sich auf den ersten Blick zurechtzufinden, denn nur wenig Sonne fiel ein, und
            alles Licht, das herrschte, schien von dem Feuer herzukommen, das in dem tiefen und
            völlig schmucklosen Kamine brannte. Neben diesem, einander gegenüber, saßen zwei
            Frauen,  sehr  verschieden   an  Jahren   und  Erscheinung,  zwischen   ihnen   aber   lag   ein
            großer, gelb und schwarz gefleckter Wolfshund, mit spitzem Kopf und langer Rute, der der
            Jüngeren nach den Augen sah und wedelnd auf die Bissen wartete, die diese ihm zuwarf.
            Er ließ sich auch durch Gretens Eintreten nicht stören und gab seine Herrin erst frei, als
            diese sich nach der Tür hinwandte und in halblautem Tone fragte: »Wen suchst du, Kind?«
            »Ich suche die Domina.«

            »Das ist sie.« Und dabei zeigte sie nach dem Stuhl gegenüber.
            Die Gestalt, die hier bis dahin zusammengekauert gesessen hatte, richtete sich jetzt auf,
            und Grete sah nun, daß es eine sehr alte Dame war, aber mit scharfen Augen, aus denen
            noch Geist und Leben blitzte. Zugleich erhob sich auch der Hund und legte seinen Kopf
            zutraulich an Gretens Hand, was ein gutes Vorurteil für diese weckte. Denn »er kennt die
            Menschen«, sagte die Domina.
            Diese hatte mittlerweile Greten an ihren Stuhl herangewinkt.

            »Wie heißt du, Kind? Und was führt dich her? Aber stelle dich hier ins Licht, denn mein
            Ohr ist mir nicht mehr zu Willen, und ich muß dir's von den Lippen lesen.«
            Und nun erzählte Grete, daß sie zu den fahrenden Leuten gehöre, die gestern in die Stadt
            gekommen seien, und daß einer von ihnen, der ihr nahegestanden, in dieser Nacht
            gestorben sei. Und nun wüßten sie nicht, wohin ihn begraben. Einen Sarg hätten sie
            machen lassen, aber sie hätten kein Grab für ihn, kein Fleckchen Erde. Wohl sei sie bei
            dem alten Prediger gewesen und hab ihn gebeten, aber der habe sie hart angelassen und
            ihr den Kirchhof versagt. Den Kirchhof und ein christlich Begräbnis.
            »Bist du christlich?«

            »Ja.«
            »Aber du siehst so fremd.«

            »Das macht, weil meine Mutter eine Spansche war.«
            »Eine Spansche...? Und im alten Glauben?«

            »Ja, Domina.«
            Die beiden Damen sahen einander an, und die Domina sagte: »Sieh, Ilse, das hat ihr der
            Roggenstroh von der Stirn gelesen. Er sieht doch schärfer, als wir denken. Aber es hilft
            ihm   nichts,   und   wir   wollen   ihm   einen   Strich   durch   die   Rechnung   machen.   Er
            hat seinen Kirchhof und wir haben den unsren. Und auf unsrem, denk ich, schläft sich's
            besser.«
            »Ja, Domina.«

            »Sieh, Kind, das sag ich auch. Und ich warte nun schon manches Jahr und manchen Tag
            darauf. Aber der Tag will nicht kommen. Denn du mußt wissen, ich werde fünfundneunzig
            und war schon geboren und getauft, als der Wittenbergsche Doktor gen Worms ging und
            vor Kaiser Carolus Quintus stand. Ja, Kind, ich habe viele Zeiten gesehen, und sie waren
            nicht schlechter, als unsre Zeiten sind. Und morgen um die neunte Stunde, da komm nur
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