Page 47 - Grete Minde
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Als sie sich erhob, sah sie, daß Ilse, die mit den andern gegangen war, zwischen den
Rundbögen wieder herauf- und auf sie zukam, allem Anscheine nach, um ihr eine
Botschaft zu bringen. Und so war es. »Komm, Grete«, sagte sie, »die Domina will dich
sprechen«; und beide gingen nun, außerhalb des Kreuzganges, zwischen diesem und
dem Seeufer hin, und auf das efeuumsponnene Haus mit dem hohen Dach und den
rotblühenden Laubstauden zu.
Es war schwül, trotzdem schon Oktobertage waren, und die Domina, die nach Art alter
Leute die Sonnenwärme liebte, hatte Tisch und Stühle in Front ihres Hauses bringen
lassen. Hier saß sie vor dem dichten, dunklen Gerank, durch das von innen her der
Widerschein des Kaminfeuers blitzte, und auf das Tischchen neben ihr waren Obst und
Lebkuchen gestellt, Ulmer und Basler, und eine zierliche Deckelphiole mit Syrakuser Wein.
Grete verneigte sich.
»Ich habe dich rufen lassen«, sagte die Domina, »weil ich dir helfen möchte, so gut ich
kann. Es soll keiner ungetröstet von unsrer Schwelle gehen. So haben es die
Arendseeschen von Anfang an gehalten, und so halten sie's noch. Und auch Ilse wird es
so halten. Nicht wahr, Ilse...? Und nun sage mir, Kind, woher du kommst und wohin du
gehst? Ich frag es um deinetwillen. Sage mir, was du mir sagen kannst und sagen willst.«
Und Grete sagte nun alles und sagte zuletzt auch, daß sie zurück zu den Ihren wolle, zu
Bruder und Schwester, um an ihrer Schwelle Verzeihung und Versöhnung zu finden.
»Das ist ein schwerer Gang.«
Grete schwieg und sah vor sich hin. Endlich sagte sie: »Das ist es. Aber ich hab es ihm
versprochen. Und ich will es halten.«
»Und wann willst du gehen?«
»Gleich.«
»Das ist gut. Ein guter Wille kann schwach werden, und wir müssen das Gute tun, solange
wir noch Kraft haben und die Lust dazu lebendig in uns ist. Sonst zwingen wir's nicht. Und
nun gib ihr einen Imbiß, Ilse, und eine Zehrung für den Weg. Und noch eins, Grete: halt an
dich, auch wenn es fehlschlägt, und wisse, daß du hier eine Freistatt hast. Und eine
Freistatt ist fast so gut wie eine Heimstatt. Und nun knie nieder und höre mein Letztes und
mein Bestes: ›Der Herr segne dich und behüte dich und gebe dir seinen Frieden.‹ Ja,
seinen Frieden; den brauchen wir alle, aber du Arme, du brauchst ihn doppelt. Und nun
geh und eile dich und laß von dir hören.«
Grete küßte der Alten die Hand und ging. Ilse mit ihr. Als diese zurückkam und ihren
vorigen Platz an der Efeuwand eingenommen hatte, sagte die Domina: »Wir sehen sie
nicht wieder.«
»Und hast ihr doch eine Freistatt geboten!«
»Weil wir das Unsre tun sollen... Und die Wege Gottes sind wunderbar... Aber ich sah den
Tod auf ihrer Stirn. Und hab acht, Ilse, sie lebt keinen dritten Tag mehr!«
Siebzehntes Kapitel
Wieder gen Tangermünde
Grete war in weitem Umkreise bis an das Gasthaus zurückgegangen, um hier von den
Leuten, die's gut mit ihr und ihrem Toten gemeint hatten, Abschied zu nehmen. Vor allem