Page 130 - Der Darwinismus als soziale Waffe
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Berichten zufolge war angeblich unser ganzes Leben nur noch genetisch: von der Eifersucht bis zur Schizophrenie,
vom Alkoholismus bis zu den Fernsehgewohnheiten.
Immer mehr Menschen begannen zu glauben, dass all unsere menschlichen Eigenschaften, von der Intelligenz
bis zum Charakter, vom Erfolg bis zum Misserfolg, schon in unseren Genen prädisponiert seien.
Die Erforschung des menschlichen Genoms ist zweifellos von unschätzbarem wissenschaftlichem Wert und hat
wichtige Informationen über eine Reihe von Krankheiten zu Tage gefördert. Aber die in das Humane Genome
Project eingebundenen Wissenschaftler und andere haben ständig vor dieser Interpretation gewarnt. Denn in
Wirklichkeit spielen genetische Faktoren bei der Ausbildung von Charakter, Verhalten und Denken des einzelnen
Menschen nur eine verschwindend geringe Rolle. In seinem Artikel The Human Genome Map: The Death of Genetic
Determinism and Beyond, schreibt Mae-Wan Ho vom Institute of Science in Society:
“Die Anzahl unserer Gene ist viel zu gering, um die während des vergangenen Jahrzehnts aufgestellte Behauptung
zu stützen, dass Gene nicht nur unseren organischen Aufbau bestimmen und unsere Krankheiten vorausprägen, son-
dern auch unsere Verhaltensmuster, unsere intellektuellen Fähigkeiten, unsere sexuellen Vorlieben oder möglicher-
weise kriminelles Verhalten.“ 188
Francis S. Collins, Direktor des National Human Genome Research Institute, stellt unmissverständlich klar, dass
es nicht die Gene sind, die Menschen zu Menschen machen. In dem Artikel Heredity and Humanity: Have No Fear.
Genes Aren't Everything, schreibt er:
“Glücklicherweise hat die zehnjährige Analyse des menschlichen Genoms hinreichende Beweise erbracht, dass die
Furcht vor einem genetischen Determinismus unangebracht ist. Wir wissen dadurch definitiv, dass wir Menschen
weitaus mehr sind als nur die Summe unserer genetischen Bausteine. Zweifellos spielen unsere Gene eine große,
formbestimmende Rolle in der menschlichen Entwicklung und natürlich auch bei der Entstehung von Krankheiten.
Aber die Untersuchung molekularer Strukturen mittels High Tech- ebenso wie mittels nicht minder wichtigen Low
Tech- Analysen in der Zwillingsforschung lassen keinen Zweifel mehr daran, dass unsere Gene eben nicht die alles
bestimmenden Faktoren unserer menschlichen Existenz sind.“ 189
Im gleichen Artikel stellt Collins klar, dass Gene keinen relevanten Einfluss auf unser Verhalten ausüben. Seiner
Kenntnis nach gibt es keine genetische Prädisposition für kriminelles Verhalten, was natürlich dessen Bestrafung in
einem anderen Licht erscheinen lässt:
“Aber wie steht es mit nicht krankheitsbezogenen Charaktermerkmalen, wie zum Beispiel intelligentem und gewalt-
tätigem Verhalten? Die Entdeckung einer Genvariation, die quasi für Gewaltanwendung zuständig wäre, hätte
zweifellos immense Auswirkungen auf unser jahrtausendealtes Verständnis des freien Willens und würde unsere
Gerechtigkeitsmaßstäbe in zweierlei und gleichermaßen gefährlicher Weise verändern. Wenn ein Verbrecher ein
Gewalt-Gen in sich trüge, könnte nämlich sein Verteidiger eine entsprechende DNS-Analyse vorlegen (“Es liegt an
seinen Genen, also ist er freizusprechen!“), und schon würde ihn jeder Richter und jede Jury freisprechen müssen.
Andererseits wäre es aber durchaus möglich, dass bei jemandem, der nicht einmal über ein Verbrechen nachgedacht
hat, ein angebliches Gewalt-Gen entdeckt wird und er dadurch unter präsumtivem Schuldverdacht stünde, und
zwar für den Rest seines Lebens. Womöglich würde er dann in eine moderne Lepra-Kolonie verschickt.
Selbst wenn unsere Gene tatsächlich unser Verhalten steuern würden, stünden nicht nur unser Rechtssystem und der
rechtliche Schutz für alle Mitglieder der Gesellschaft zur Disposition. Wie zum Beispiel könnte dann unser Konzept
der Gleichheit der Gelegenheiten noch aufrechterhalten werden? Und was wäre mit dem Leistungsgedanken? Man
denke nur an die grauenhafte Genetokratie aus dem Film Gattaca ... einer Welt, in der Kinder unmittelbar nach ihrer
Geburt Kasten zugewiesen werden, entsprechend ihrer DNS-definierten Intelligenz und Berufseignung.“ 190
In seinem Artikel kritisiert Collins die abstruse Vorstellung eines genbestimmten menschlichen Verhaltens an-
hand eines Zitats:
“Bei alledem muss ich immer an einen metaphorischen Vergleich des Biologen Johnjoe McFadden denken: Die Suche
nach Genen, die unser gesamtes Verhalten und die Hervorbringungen unseres Geistes angeblich prädisponieren,
wäre gleichbedeutend mit dem Bemühen, zwischen den Seiten einer Violine und den Tasten eines Klaviers
Beethovens Krönungskonzert zu entdecken. Aber das menschliche Genom muss man sich vorstellen als ein riesen-
großes Orchester, in dem jedes einzelne unserer etwa 30.000 Gene nur eines der Instrumente ist in dem wundervollen
Konzert der Molekularbiologie. Jedes davon ist unverzichtbar und beteiligt am gesamten und hochkomplizierten
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