Page 256 - Für denkende Menschen
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Ja, es ist ganz leicht, dass wir uns irren, indem wir die Wahrnehmungen,
die keine materiellen Gegenwerte haben, als Realität ansehen. Ebenso passiert
es uns auch in unseren Träumen. Im Traum erleben wir Ereignisse, sehen wir
Menschen, Objekte, Orte, die vollständig real erscheinen. Aber sie alle sind
nichts anderes als eine Wahrnehmung. Zwischen Traum und tatsächlicher Welt
gibt es keinen grundlegenden Unterschied: Beide werden im Gehirn erlebt.
WER NIMMT WAHR?
Wie man bis hierher verstehen konnte, handelt es sich zweifellos bei der
materiellen Welt, die wir als die “äußere Welt” bezeichnen und welche wir
bewohnen, eigentlich nur um eine in unserem Gehirn gebildete Welt. Die
wichtigste Frage aber tritt an diesem Punkt auf: Wenn alle materiellen Wesen,
die wir kennen, in Wirklichkeit nur eine Wahrnehmung sind, was ist dann
unser Gehirn? Da unser Gehirn wie unsere Arme, unsere Beine oder wie ein
anderes Objekt ein Teil der materiellen Welt ist, muss es wie die anderen
Objekte auch eine Wahrnehmung sein.
Ein Beispiel über den Traum wird uns diese Tatsache erklären. Stellen wir
uns entsprechend unserer bisherigen Ausführungen vor, dass wir uns in
unserem Gehirn einen Traum betrachten. Im Traum werden wir einen einge-
bildeten Körper haben. Einen eingebildeten Arm, ein eingebildetes Auge, ein
eingebildetes Bein und auch ein eingebildetes Gehirn. Wenn wir während
unseres Traums gefragt würden “Wo siehst du?”, würden wir antworten, “Ich
sehe in meinem Gehirn”, aber es gibt kein tatsächliches Gehirn. Es gibt nur
einen eingebildeten Körper, einen eingebildeten Schädel und ein eingebildetes
Gehirn. Der Wille, der die Bilder im Traum sieht, ist nicht das eingebildete
Gehirn im Traum, sondern ein anderes Wesen, das “weiter entfernt” von
diesem Willen ist.
Wir wissen, dass es zwischen dem Ort im Traum und dem Ort, den wir als
den Ort des “tatsächlichen Lebens” bezeichnen, keinen physikalischen
Unterschied gibt. Wenn dem so ist, dann ist es ganz sinnlos, dass wir wie im
obigen Beispiel antworten, “In meinem Gehirn”, wenn wir an dem Ort, den wir
als den “tatsächlichen” Ort bezeichnen, gefragt werden, “Wo siehst du?”. In bei-
den Fällen ist der sehende und wahrnehmende Wille nicht das Gehirn, denn
das ist eigentlich nur ein Stück Fleisch.
Wenn wir das Gehirn analysieren, erhalten wir nichts anderes als die Mole-
küle der Proteine und Fette, die sich auch in anderen lebendigen Organismen
wiederfinden. Das heißt, in diesem Stück Fleisch, das wir als Gehirn bezeich-
nen, gibt es nichts, das sich die Bilder ansehen und das Bewusstsein entstehen
lassen kann. Nichts also, was eine “Identität” schaffen könnte.
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