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Das hat doch   nationalen Stil“ geprägt habe. Ich war amüsiert.   dass ein Gebäude
                                                             Es gefällt mir,
                                                           wenn man sieht,
            Diese Wolkenkratzer sahen alle gleich aus. Das
            versprach wenigstens eine kurze Führung zu
 alles einen   werden.  Drei Stunden später hatte ich einiges    einem Zweck
                                                                            dient.
            dazugelernt: erstens, dass die Führung nicht
            kurz war, und zweitens, dass ich entgegen
 Zweck! Illustrationen: Dmi T / shutterstock.com  meiner kindlichen Erfahrungen Architektur ver-  bin keine Versicherung, aber ich nutze solche
            stehen und mich in ihr wohlfühlen konnte und
                                                  Einrichtungen, ich werde vertreten oder betreut
            kann. Nur eben (und hier entschuldige ich mich
            bei allen Ex-Freundinnen, die mit mir toskani-
                                                  in Rathäusern und Gemeindeverwaltungen,
            sche Kirchen oder Loire-Schlösser besichtigen
            wollten): ausschließlich moderne Architektur   ich bin Konsument in Ladenpassagen und
                                                  Einkaufszentren, ich bereichere mein Leben in
            (und bei allen Kunsthistoriker*innen, deren   Konzertsälen und Museen. Es interessiert mich,
            Fachwissen ich damit ignoriere, entschuldige   wie Architekt*innen die Orte dieser alltäglichen
            ich mich auch).                       Handlungen so gestalten, dass einem die Dinge
 Oder: warum   Durch meine Eltern bin ich zum Fan mo-  verstärkt durch das Shuffl e-Geräusch der Filzlat-  Zum einen liegt es daran, dass ich den   dort leicht von der Hand gehen, dass man sich
 auch hässliche   derner Architektur geworden. Es lag nicht daran,   schen, die wir zum Schutz der monarchistischen   Zweck dieser Architektur verstehe. Also das,   gern dort aufhält, und so, dass man nicht das
                                                  Gefühl haben muss, man sei Bittsteller in einem
 Parkettböden hatten überziehen müssen. Aber
 dass sie mir diese speziell nahezubringen ver-
            was sie beherbergt. Ich bin keine Bank und ich
 Betonbauten   suchten, sondern an all den alten Kirchen und   es hat mir nie gefallen, mich von alten Gebäu-  Palast. Die Bürohochhäuser von Mies van der
 42  reizvoll sein   Schlössern, in die sie uns Kinder in den Ferien   den und Prunkzimmerfl uchten überwältigen zu   Rohe sind von monumentaler Größe, aber sie   43
                                                  erschlagen einen nicht, weil sie durch ihre Glas-
 lassen. Ich war doch sowieso schon klein.
 schleppten. Das Wort „schleppen“ stimmt nicht
 können  mal. Wir mussten selber gehen. Ich erinnere   Etwa zehn Jahre später machte ich   fassaden durchsichtig und einsichtig wirken,
 von Till Raether  mich noch deutlich daran, wie angesichts eines   mit einem Freund meine erste USA-Reise, mit   und vor allem, weil sie an keiner Stelle ver-  Für meine Familie ergab sich aus dieser
 weiteren Barockschlosses oder einer weiteren   dem Greyhound-Bus, und als wir in Chicago   leugnen, dass sie Zweckbauten sind. Es gefällt   Vorliebe ein etwas abseitiges und schwer
 spätgotischen Backsteinkirche meine Beine im-  ankamen, lasen wir im Reiseführer, man müsste   mir, wenn man sieht, dass ein Gebäude einem   nachvollziehbares Besuchsprogramm, wenn
 mer schwerer und gleichzeitig schwächer wur-  auf alle Fälle eine Archi-  Zweck dient, also den Menschen, die darin   wir etwa in London oder Vancouver oder Berlin
 den, und auf meiner Seele schienen Langeweile   tekturführung machen.   arbeiten, und denen, die reinkommen, weil sie   waren. „Warum gucken wir uns diesen häss-
 und Trübsinn verteilt zu werden wie Mörtel auf   Weil der Architekt Mies   von denen, die da arbeiten, etwas wollen.   lichen Kram an?“, klagten die Kinder, und ich
 historischen Ziegelreihen.   van der Rohe hier so viele   Zwischendurch hat meine Vorliebe für   erklärte ihnen lang und nur für mich faszinierend
 Das Problem an all diesen alten Ge-  Wolkenkratzer entworfen   moderne Zweckbauten Züge eines Hobbys   die baulichen Besonderheiten der Simon Fraser
 bäuden war in meinem kindlichen Empfi nden,   und dadurch den „inter-  angenommen. Eine Zeit lang war ich sehr   University und was sich Arthur Erickson bei der
 dass man so verdammt viel über sie wissen        begeistert von den oft grauen, oft scheinbar   sichtbaren Betonstruktur der Decken gedacht
 musste, um ihre Architektur zu würdigen. Meist   hässlichen Betonbauten der 60er- und 70er-   hatte. Bis ich mich selbst in ihren tiefengelang-
 ging dies einher mit der monotonen Stimme        Jahre, dem sogenannten Brutalismus (wegen   weilten Mienen wiedererkannte und innehielt.
 eines Führers, die durch einen Spiegelsaal       des „rohen“ Betons, französisch „brut“). Zum   Moderne Architektur liebe ich immer noch,
 oder ein Kirchenschiff hallte. Klar, es gab am   einen erinnerte mich dieser Baustil an meine   aber ich glaube, wenn ich weiter so ausführlich
 Anfang immer dieses Überwältigungsgefühl,        Kindheit, denn in den Siebzigern sahen die   davon schwärme, werden meine Kinder wieder
 das auch ohne vertieftes Grundwissen nicht zu    Schulen, die Stadtbüchereien und die Postämter   zu Fans von romanischen Kirchen und Roko-
 leugnen war: so etwas wie Ehrfurcht und ein      in Großstädten oft so aus. Zum anderen gefällt   ko-Schlössern.
 leichtes Schwindelgefühl beim Betreten einer     mir das Selbstbewusstsein dieser Bauweise: Ja,
 Kathedrale, verstärkt durch den Moder-, Holz-    wir brauchen Platz, und ja, was wir hier drinnen
 Unser Autor erklärt, warum er   und Steinhauch der Jahrhunderte. So etwas wie   machen, ist wichtig, denn es (eine Uni, ein   TILL RAETHER arbeitet als freier Journalist
 moderne Architektur liebt, auch   Bewunderung und Staunen beim Durchlaufen   Krankenhaus, ein Bezirksamt) dient allen Men-  in Hamburg, unter anderem für Brigitte und das
 wenn seine Familie darunter   eines prachtvoll goldverzierten aristokratischen   schen, darum verstecken wir uns nicht, sondern   SZ-Magazin. Er ist zwar kein Raiffeisen-Kunde,
                                                                                           weiß aber dennoch, was er sich von seiner Bank
 leiden muss.  Repräsentationsraumes nach dem anderen,   donnern diesen Klotz hierhin.     in Deutschland wünscht.
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