Page 34 - Mariazell 2016
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"Weg der Barmherzigkeit"
Lehren ist vor allem eine Augenschule. Lehren geschieht jedoch normalerweise
über das Wort. Die Worte sind wie Schlüssel, die die Augen öffnen. Aber damit
Worte die Augen öffnen, bedarf es des Gesprächs und nicht des Geredes.
„Reden“ und „sprechen“.
Wir unterscheiden im Deutschen zwischen „reden“ und „sprechen“. Reden
heißt: etwas begründen, etwas rechtfertigen. Doch im Reden liegt die Gefahr,
dass wir auf den andern einreden, ihn überreden, ihm etwas bereden. Wenn
wir viel reden, gibt es nur ein Gerede. Sprechen kommt von „bersten“. Es bricht
aus mir heraus. Ein Gespräch entsteht nur, wenn ich spreche, wenn meine
Worte aus dem Herzen kommen. Dann belehre ich nicht, sondern wir
sprechen miteinander.
Sokrates hat die richtigen Fragen gestellt. Das deutsche Wort Frage kommt von
„Furche“. Sokrates hat den andern nicht ausgefragt, sondern eine Furche in
den Acker seiner Seele gegraben, damit sein Acker Frucht trägt.
Auf die Frage sollen wir antworten. Im Angesicht des andern gebe ich ihm ein
Wort, nicht ein Wort, das ihn belehrt, sondern das ihn in Berührung bringt mit
der Weisheit seiner eigenen Seele. Wenn wir auf diese Weise lehren, die
Augen öffnen für die Weisheit, die in jedem schon bereit liegt, dann vollziehen
wir ein Werk der Barmherzigkeit. Den Unwissenden lehren heißt, Worte des
Lebens zu sprechen, die das Leben im andern hervorlocken.
Solche Worte weiterzuschenken, ist ein Werk der Barmherzigkeit.
GEBET
Barmherziger und guter Gott, wir tappen oft im Finstern herum.
Wir gehen unseren Weg, wissen aber nicht, wohin er geht.
Wir achten nicht auf die Schritte, die wir gehen.
Öffne du uns die Augen, damit wir achtsam unsere Wege gehen,
Podersdorfer Wallfahrt 2016 Seite 29