Page 43 - Mariazell 2016
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"Weg der Barmherzigkeit"

"heilsam sprechen"

Früher hieß dieses erste geistige Werk der Barmherzigkeit „Sünder
zurechtweisen“. Mit beiden Begriffen „Sünder“ und „Irrende“ tun wir uns
schwer. Denn wir geben ja damit vor, dass wir selber auf dem rechten Weg
sind. Was für ein Recht nehmen wir uns heraus, andere, die wir für verirrt
halten, zurechtzuweisen?

Doch jedes Werk ist ein heilsames Werk, das den Menschen gut tun soll. Wenn
sich jemand verirrt hat, wenn er den Weg nicht mehr findet und ziellos
herumirrt, dann braucht er einen Wegweiser, der ihm wieder den rechten
Weg zeigt. Der Wegweiser stellt sich nicht über den andern. Er begleitet ihn
ein Stück weit, damit er den Weg zu dem Ziel findet, auf das hin er unterwegs
ist.

Den Weg zeigen

Das erste Werk der Barmherzigkeit geht auf das Wort Jesu zurück, das uns
Matthäus in der sogenannten „Gemeinderegel“ überliefert: „Wenn dein
Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört
er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen“ (Mt 18,15).

Sündigen heißt im Griechischen „hamartanein“, das meint: den Weg verfehlen,
sich verirren. Wer seinen Weg verfehlt, der braucht einen, der ihm den Weg
zeigt. Im Griechischen steht hier: „Hört er dich, hast du deinen Bruder
gewonnen.“ Es geht nicht um ein Gefälle: Ich weiß den Weg und du nicht.

Vielmehr spreche ich mit dem andern. Wenn er mich als seinen Bruder hört,
wenn er offen ist für einen, der ihm helfen will, dann tut es ihm gut. Dann
gewinne ich ihn als Bruder. Er wird mir Bruder oder Schwester. Es entsteht eine
gute Beziehung. Ich bin nicht der Besserwisser und auch nicht der
Tugendsame. Ich bin genauso auf dem Weg wie der Irrende. Und auch ich

Podersdorfer Wallfahrt 2016                              Seite 38
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