Page 6 - engelthaler-rundschau-34-2020
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Frida (42) ist seit einigen Jahren in
                                                                              psychiatrischer  Behandlung.  Sie
                                                                              nimmt  Antidepressiva,  weil  sie  zu
                                                                              viel grübelt, nicht schlafen kann, oft
                                                                              weint. Wegen Burn­outs war sie sta­
                                                                              tionär in Behandlung. Ihre Tochter zu
           In der Psychotherapie sprechen wir   ihrem Papa, der traditionelle Rol­  versorgen  schafft  sie  inzwischen           GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE UND
           oft  über  Erwartungen  bzgl.  Wohl­  lenvorstellungen hat und der offe­  wieder, aber ihre Arbeit ist ihr zu viel.
           verhalten,  Funktionieren  und  Leis­  neren Mutter, die das Spielen mit   Früher konnte sie nicht Nein sagen,
           tung,  mit  denen  wir  während  un­  Geschlechtsstereotypen tolerieren   ist  auch  am  Wochenende  ins  Ge­          ANTIDEPRESSIVA –
           serer  Entwicklung  konfrontiert   kann – erste Anzeichen einer psy­  schäft,  abends  lange  dringeblieben.
           wa ren.  Ebenso  wichtig  sind  ge­  chischen  Belastung  lassen  sich   Dazu ein kleines Kind – das hat sie
           schlechtsspezifische  Erwartungen   bereits erkennen. Ich stimme Melli   erschöpft.
           während  der  prägenden  frühen   zu, dass Kinder Entwicklungs­ und                                                    WIRKEN DIE MEDIKAMENTE
           Jahre. Wie sollen sich Mädchen und   Experimentierraum brauchen, um   Sie  ist  zusammen  mit  ihrer  älteren
           Jungen verhalten, bewegen, kleiden   ihre  Geschlechts identität  zu  ent­  Schwester aufgewachsen. Die El tern
           (Melli),  (wie)  wird  über  die  sexu ­   wickeln.  In  unserer  Gesellschaft   betrieben ein Transportunternehmen,
           elle  Orientierung  gesprochen  (Gi ­   sollten wir in der Lage sein, offen   waren immer beschäftigt, hatten kei­     BEI FRAUEN ANDERS ALS
           sela)?  Welche  Interessen  werden     und  tolerant  den  verschiedenen   ne  Zeit  für  die  Töchter.  Sie  hat  von
           gefördert  bzw.  behindert,  welche    geschlechtlichen  Identitäten  zu   klein auf viel Druck und Kritik erlebt,
           Partner*innen  sind  den  Eltern  ge­  be gegnen.  Dann  würden  Eltern   konnte eigene künstlerische Interes­

           nehm (Frida).                    und  Kinder  weniger  Angst  und   sen nicht entwickeln, sollte eine dem              BEI MÄNNERN?
                                            Scham bzgl. sexueller Themen ha­  Betrieb  entsprechende  technische
           Missfallen, Abwertungen oder Igno­  ben  und  miteinander  sprechen   Ausbildung machen. Auch die Part­
           ranz  verunsichern  Kinder  in  ihrer   können (Gisela).           ner/Schwiegersöhne  sollten  dazu
           Entwicklung.  Sie  erleben  sich  als                              passen,  keine  „Waschlappen“  sein,
           falsch,  schuldig  und  können  sich   Manche  Eltern  sind  mit  dem  Ge­  wie sich der Vater ausdrückte.             Frauen  leiden  wahrscheinlich  etwas   Vergleich Sertralin versus   einflossen,  schnitten  die  Medika­
           deshalb  selbst  schwer  annehmen   schlecht des Kindes nicht einver­                                                  häufiger unter Depressionen als Män ­   Imipramin – signifikanter   mente,  die  zur  vorzeitigen  Beendi­
                                                                                                                                     1
           und  gernhaben.  Sebastian  bei­  standen. Fridas Eltern wünschten   Frida  war  ein  zartes,  melancholi­             ner , sie unterliegen jedenfalls häufi­  Geschlechtsunterschied     gung führten, also jeweils schlechter
           spielsweise fühlt sich als Junge von   sich  Söhne  und  versuchen,  die   sches Kind, verstummte immer mehr,          geren hormonellen Schwankungen in                                   ab. Hätten alle bis zum Ende durch­
           der Mutter nicht gewollt. Sie wendet   Töchter auf die im Familienunter­  besonders  weil  sich  die  Schwester        ihrem Leben und sie haben generell   70                             gehalten,  wäre  es  womöglich  nicht
           sich nur der kleinen Schwester zu.   nehmen  geforderten  Aufgaben   scheinbar viel leichter den Anforde­              eine  etwas  andere  Körperzusam­  60                               zu  unterschiedlichen  Ansprechraten
           Das  könnte  zu  unbewussten  Über­  vorzubereiten. Das betrifft zum ei­  rungen  der  Eltern  anpassen  konnte        mensetzung  als  Männer.  Wenn  nun   50                            gekommen.
           zeugungen führen wie „ich bin nicht   nen Leistung und Interessen, aber   und  gute  Noten  heimbrachte.  Bis          Medikamente mit Genen, Hormonen    40
           liebenswert“,  „ich  sollte  nicht  hier   auch Persönlichkeit und Partner­  heute sei die Schwester das glänzen­      und dem Körpergewebe in Wechsel­   30
           sein“, zu Todessehnsucht und Suizi­  wahl.  Frida  „darf“  keine  eigene   de  Vorbild,  gelernte  Mechatronike ­      wirkung stehen, könnte es dann nicht   20                           Warum brachen die Frauen
           dalität. Der Vater war für ihn nicht   Perspektive entwickeln und kehrt   rin  –  sie  selbst  sei  das  schwarze      sein,  dass  sie  auch  unterschiedlich   10                        aber eher mit Imipramin (TCA)
           verfügbar. Dessen Aufgabe wäre es   nach einem Ausbruchsversuch mit   Schaf, im kaufmännischen Beruf un ­              wirken bei Frauen und bei Männern?    0                             ab und Männer eher mit
           gewesen,  den  kleinen  Jungen  aus   dem Gefühl des Scheiterns ins El­  glücklich.                                                                              Sertralin   Imipramin     Sertralin (SSRI)?
           der  Enge  der  mütterlichen  Miss­  ternhaus  zurück,  wird  psychisch                                                Eine erste bedeutende Studie hierzu          Frauen   Männer
           achtung zu befreien, ihm ein Vorbild   krank.                      Frida  rebellierte  in  der  Pubertät,              wurde  im  Jahr  2000  von  Kornstein                               Die Erklärung hierzu kam in späteren
                                                                                                                                                2
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           zu  sein,  seine  Entwicklung  zu  för­                            fand einen Freundeskreis – natürlich                und  KollegInnen   veröffentlicht:  Sie   Unterschiedliche  Ansprechraten  (%)  nach  12   Studien ,  die  zeigen  konnten,  dass
           dern. Sebastian erlebt, was wir Psy­  Bisweilen  müssen  wir  uns  mit   den falschen, so meinten die Eltern.          fanden ein geschlechtsspezifisch un­  Wochen  auf  Sertralin  (SSRI)  und  Imipramin   Frauen bei gleicher Imipramin­Dosis
           chologen  mangelnde  Spiegelung   Prophezeiungen  auseinanderset­  Schule  schwänzen,  Alkohol,  Par ­                 terschiedliches  Ansprechen  auf  die   (TCA)  bei  Frauen  und  Männern,  nach  Korn -   einen höheren Blutspiegel aufgebaut
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           nen nen. Sein Dasein erzeugt zu we­  zen,  die  uns  Angst  einjagen:  „Mit   tys.  Sie  wurde  jung  schwanger.  Der   Serotonin­Wiederaufnahme­Hemmer   stein et al. (2000)              haben  als  Männer,  dadurch  hatten
           nig Resonanz, zu wenig Leuchten in   deinen  Ansprüchen  kriegst  du     Freund hat sich verzogen, wollte we ­         (SSRI, namentlich von Sertralin) und                                sie also auch mehr Nebenwirkungen,
           den Augen der nahen Bezugsperso­  nie  einen  Mann,  wirst  eine  alte   der das Kind, noch sich den Vor stel­         den  klassischen  trizyklischen  Anti­  Die  Kritik  an  der  Studie  ließ  jedoch   die letztendlich zum Studienabbruch
           nen. Folge ist ein geringes Selbst­  Tante.“  (Britta)  „Reiß  dich  zu­  lungen  der  Schwiegereltern  unter­         depressiva (TCA, namentlich von Imi ­   nicht  lange  auf  sich  warten.  Quitkin   führten. Die höheren Blutspiegel hat­
           wertgefühl,  ein  Gefühl  der  Selbst­  sammen – ein Mann weint nicht!“     ordnen.  Damals  kehrte  sie  ins  El­     pramin).                          et  al.  (2001)   zeigten  auf:  Männer     ten  wohl  mit  hormonellen  Einflüs ­
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           entfremdung.  Ähnliches  finden  wir   Solche  Sätze  lösen  tiefe  Scham     tern haus zurück, was sie als völliges                                     hatten  die  Studie  häufiger  wegen     sen auf Bindungs­ und Abbauvorgän ­
           bei  Borderline­Pati ent*innen,  wie   aus, über die schwer gesprochen     Versagen erlebte. Sie habe re sig niert,    Imipramin  erwies  sich  bei  Männern   Nebenwirkungen  der  SSRI  (Magen­  ge  im  Körper  zu  tun.  Bei  den  SSRI

           bei  Bärbel,  die  wenig  Liebe  und   werden  kann.  Erst  durch  the ra­  eigene  Wünsche  aufgege ben.  Die         wirksamer  als  bei  Frauen  vor  der   Darm­Probleme und sexuelle Funk­  wiederum  war  es  so,  dass  Frauen


           Nähe seitens der Mutter, ihrem Rol­  peutische  Arbeit  werden  sie  ent ­   ers ten  Behandlungen  wegen  Er ­        Menopause;  nach  der  Menopause   tionsstörungen)  abgebrochen.  Frau­  aufgrund  ihrer  anderen  Körperzu ­
           lenvorbild, erlebte.               deckt  und  können  bestenfalls   schöp fungsdepression  hatten  das                ließen  sich  keine  Geschlechtsunter­  en  dagegen  hatte  die  Studie  eher   sammensetzung  mit  einem  etwas
                                            überwunden  und  durch  individu­  Ziel, wieder zu funktionieren. Inzwi­              schiede  mehr  in  der  Ansprechrate   wegen  Nebenwirkungen  von  TCA   hö heren Körperfettanteil und insge­
           Häufig  versuchen  Kinder,  sich  den   elle Werte ersetzt werden.  schen geht es ihr mehr darum, sich                 auf  die  Therapie  feststellen.  Frauen   (Gewichtszunahme  und  Kreislauf­  samt  eines  geringeren  Körperge­

           elterlichen  Erwartungen  anzupas­                                 ab zu grenzen,  eigene  Bedürfnis se                vor der Menopause hingegen zeigten   probleme)  vorzeitig  beendet.  Da  die     wichts  mehr  von  der  Substanz  bei
           sen, um (doch noch) geliebt zu wer­                                wahr zunehmen,  eine  eigene  Pers­                 ein  besseres  und  schnelleres  An­  kurz  vor  Abbruch  vorherrschenden     gleicher verabreichter Dosis angerei­
           den – Mellis Kinder stehen zwischen                                pektive zu entwickeln.                              sprechen auf Sertralin.           Besserungsraten in das Endergebnis   chert  haben.  Die  SSRI  gelten  als




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